Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung. Helmut H. Schulz

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Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung - Helmut H. Schulz

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der den Mann nur einige Male zu Gesicht bekommen hatte, dessen Straftaten und wendete sich dann dem Maßnahmeplan zu. Alle sahen die Therapeutin an… »Das letzte Wort liegt natürlich bei Ihnen, Frau Kollegin,« gab der Direktor freundlicherweise zu; er mahne jedoch an, daß man zumindest einen Zwischenbericht über das Erreichte an die Staatsanwaltschaft beziehungsweise an die Strafvollstreckungskammer weiterleiten müsse. Falls es also keine schwerwiegenden Bedenken gäbe, sollte man dem Häftling einen baldigen kurzen Freigang in Aussicht stellen, zumal er die Hälfte der Strafzeit hinter sich habe und bei seiner guten Führung mit einem Antrag auf Strafaussetzung vielleicht rechnen könne. Da sich niemand ein Bild von diesem Häftling machen konnte, schwiegen alle…

      »Hat er eigentlich Familie, die sich um ihn kümmert«, fragte die alte Beamtin und Freundin der Therapeutin. Ja, die habe er zwar, Mutter und Geschwister, verweigere aber jeden Kontakt zu ihnen. Die Therapeutin war gut vorbereitet, sie sprach über die schwierigen häuslichen Verhältnisse des Klienten und erklärte, weiter ausholend, was sie in den Sitzungen aus ihm herausgeholt hatte, zog ähnliche Fälle heran, die gut dokumentiert vorlagen. Aber niemand, kein Therapeut könne vorhersagen, wie sich der Prozeß der Rehabilitierung in der Praxis weiter vollziehe, wie die Rückfälle auch bei positiver Bewertung zeigten. Ein Mitvierziger, die Hälfte des Lebens hinter sich, eines verpfuschten Lebens, unter der Glasglocke einer Anstalt gehalten, solle in eine freie Gemeinschaft mit ihren komplizierten Regeln und Versuchungen hineinversetzt werden… Hier warf die alte Beamtin ein, sie erinnere sich jetzt daran, daß vor einiger Zeit Arrest über ihn verhängt werden mußte, eine Kontaktsperre. Kurzfristig, ja, fiel ihr der Herr Direktor unwirsch ins Wort, das Gesetz vom September siebensiebzig der Kontaktsperre hätte hier keineswegs Anwendung finden dürfen, der Mann sei schließlich kein Terrorist, sondern einfach ein Kranker, nun ein hoffentlich gebesserter Kranker. Die Alte hielt ihm entgegen, daß seinerzeit ihres Wissens niemand den Ursachen seines Rückfalls nachgegangen sei, weshalb sich der brave Häftling von einem auf den anderen Tag in einen Tobsüchtigen verwandelt habe, der einen Kollegen mehrere Stunden lang in einer Art Geiselhaft gehalten habe, bis er endlich zur Aufgabe überredet werden konnte. Und Kontaktsperre, er habe ja, wie man höre, keinen Kontakt haben wollen. In diesem Falle böte sich doch erst einmal an, den Maßregelvollzug zu ergänzen und den Mann innerhalb der Anstalt zur Beobachtung etwa in eine Gemeinschaftszelle zu verlegen, mit einem ausgesuchten, psychisch stabilen Strafgefangenen natürlich. Ihr wurde heftig widersprochen, man wisse aus Erfahrungen, was passiere, wenn Triebtäter mit Normalen zusammengelegt würden, in mancher Anstalt als restriktives Mittel angewendet, um den Widerstand des Häftlings zu brechen, und daß diese auf ihre Normalität nicht wenig stolz, Kinderschändern, Sexualtätern die Hölle bereiten könnten. Selbst das Rotlicht habe seine Ethik.

      Schließlich rang sich die Therapeutin zu einem Vorschlag durch, der schon aus dem Grunde Zustimmung fand, als er die festgefahrene Debatte zu beenden half. Als die alte Beamtin im Umkleideraum ihre Sachen ins Spind hängte und Zivilkleidung anzog, suchte die Therapeutin sie noch einmal auf, um unter vier Augen mit ihr zu sprechen. »Nein, mein Kind«, sagte die Alte bedrückt, »tun Sie, was Sie nicht lassen können,« aber sie habe kein gutes Gefühl bei der Geschichte und traue diesem aalglatten Kandidaten nicht über den Weg. Sie sagte: »Ich bin so lange dabei und habe so viele Neuerungen miterlebt, die alle gescheitert sind, daß ich lieber beim alten Stil bleibe, Strafe ist Strafe. Wenn Sie Ihrer Sache nicht ganz sicher sind, noch ist Zeit, den Freigang abzublasen. Lassen Sie den Alten meckern; er gehört einer anderen Fraktion an als wir, als Sie und ich. Politik hört an Gefängnismauern nicht etwa auf. Er wartet auf seine Berufung in die höheren Etagen der Justiz. Glauben Sie mir, der Gefangene kennt nur das eine, Flucht, er will raus hier, in die Freiheit. Jede Anstalt, und ich kenne einige, ist eine Hierarchie, zu der wir als Beamte keinen Zutritt haben, und jedes Gefängnis funktioniert doch wieder nur auf der Basis unserer Kooperation mit den führenden Häftlingen, den Kalfaktern. Sie sind es, die den Bau kontrollieren, alles, Arbeit, Freizeit, den Verkehr untereinander und nach draußen. Wie sonst würden wir bei den Kontrollen in vielen Zellen Heroin, Handys und sonstwas finden und wie anders kommt es herein, wenn nicht durch dunkle Kanäle, die wir nicht kennen. Wenn ich diese Menge Häftlinge auf den Etagen im offenen Vollzug umherschlendern, handeln und wandeln sehe, dann frage ich mich, was tun und treiben sie, was baldowern sie gerade aus, altes Wort, ich weiß, und was sich nach Einschluß abspielt, nachts, wenn der Bau zu leben beginnt, das sehen wir in der Zentrale natürlich nicht auf den Bildschirmen, die zeigen uns nur leere Korridore in voller Ruhe. Wie lange sind Sie jetzt bei uns? Zwei Jahre? Also noch in der Lehre. Geben sie auf sich Acht! Wie gesagt, ich traue Ihrem Klienten nicht über den Weg, der Bursche gehört weggeschlossen, was der Direktor auch faselt.« – »Weggeschlossen? Wer? Der Herr Direktor?« fragte die Therapeutin; es war ein Versuch, sich gelassen zu zeigen, aber die Alte schloß trocken: »Der auch, zeitweilig wenigstens. Dann hätten wir hier mehr Ruhe.«

      Am Abend nach der Konferenz bereitete die Therapeutin ihre kleine Wohnung in Nähe der Haftanstalt für den Besuch eines Normalen vor, eine Kaffeestunde mit leichtem Gebäck. Trotz ihrer Zuversicht in den Erfolg der Maßnahme holte sie aus einem verschlossenen Fach des Schreibtisches eine Pistole, die ihr verstorbener Vater hinterlassen hatte. Sie nahm das Magazin heraus; es enthielt drei Patronen, eine steckte im Lauf. Sie träufelte etwas Öl auf die sich reibenden Teile und baute alles wieder zusammen, aber sie entschloß sich den Ratschlag der Alten zu beherzigen, keine Waffe bei sich oder auch nur in der Nähe zu haben im Verkehr mit einem Gefangenen. Sie wickelte die Pistole in ein Handtuch, schnürte ein Päckchen und trug alles hinunter in ein Gartenhaus, das von den Mietern des Hauses, außer ihr nur von einem alten freundlichen aber schwerhörigen Ehepaar in der Etagenwohnung über ihr, gemeinschaftlich zur Aufbewahrung von Gartengeräten genutzt wurde. Sie besaß zwar einen Waffenschein, hatte auch an einer Schießausbildung teilgenommen, aber nie daran gedacht eine Waffe zu kaufen.

       3.

      An einem der Folgetage, als sie zur Sitzung das Sprechzimmer betrat, fand sie ihren Mann maulend und zerstreut, krank und ablehnend vor. Er wolle kein Gespräch mehr, behauptete, er gehe seelisch zugrunde in diesem Nazi-KZ; diese Anstalt bringe Menschen um und sie, seine Betreuerin, täte mit, er werde sie einfach ablehnen und auch diesen sogenannten Maßregelvollzug. Als sie ihm gesagt hatte, daß er an einem mit der Leitung noch abzusprechenden Tag einige Stunden Freigang bekomme, als er mißtrauisch erfragt hatte, ob er wirklich allein draußen herumlaufen dürfe, und eine Antwort bekommen hatte, die ihn zufriedenstellte, baute er sich vor ihr auf, sah sie forschend und mißtrauisch an, als glaube er nicht, was sie ihm versprach. Sie beschrieb ihm den Weg zu ihrer Wohnung, sagte, daß sie volles Vertrauen zu ihm habe und ihn für so weit seiner sicher halte, daß er den Weg allein hin und wieder zurückgehen könne. Es sei eine erste Bewährung, einige Stunden, die Vorbereitung auf Arbeit seiner Wahl im Freigang vielleicht, ein Vorgeschmack von Freiheit. Von da sei es dann kein allzu langer Weg mehr in die Normalität. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Martin«, sagte sie, als spreche sie zu einem Kind und gerührt von ihrer eigenen Güte. Er trat plötzlich dicht heran, umarmte sie, preßte seine an ihre Wange, ließ sie aber sofort frei, als er ihre Abwehr spürte und sagte leise: Verzeihung! Er ging an das vergitterte Fenster, drehte ihr den Rücken zu und sie wollte, befriedigt über die Wirkung ihres Versprechens ein Aufschluchzen gehört, ein Zucken seiner Schultern gesehen haben, als halte er die Tränen zurück. Sie dachte den erhabenen Gedanken, daß jeder Mensch einen anderen Menschen brauche, der an ihn glaube, daß jeder Mensch ja eigentlich gut sein wollte und nicht böse. Auf dem Nachhauseweg hatte sie doch das beklemmende Gefühl, selbst vor einer Prüfung zu stehen, etwas falsch gemacht, einen anderen Mann vor sich gehabt zu haben, als den sie kannte. Wenn es denn ein Fehler war, diesen ungewöhnlichen Freigang auf ihre Kappe zu nehmen, die Begleitung Martins durch einen Beamten abzulehnen, so war dieses Experiment nicht mehr rückgängig zu machen, ohne ihr Projekt zu gefährden; er würde sie sicherlich nie mehr so dicht an sich heranlassen.

       4.

      Er kam, dann lief alles ab, genau wie er ihr einige Male geschildert hatte. Sie wälzte sich schreiend unter seinem Gewicht auf dem Teppichboden, obschon sie niemand hören

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