Kirche im Nachkriegs-Mecklenburg um 1950-60. Jürgen Ruszkowski
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Ich packte also meine Sachen in einen kleinen Koffer und beschloss, am Sonntag den Versuch zu wagen, nach Westberlin zu fliehen. Der in Frage kommende Zug fuhr aus Schwerin kurz vor 12 Uhr, von den sicher schwierigen Gesprächen mit meiner Mutter erinnere ich leider kaum noch Einzelheiten, jedenfalls stand der Entschluss zum Gehen fest.
Aber das weiß ich genau: Wir wollten beide noch in den Gottesdienst gehen, in die Paulskirche, in der ich konfirmiert worden und jahrelang Kindergottesdiensthelfer war.
Ich mit dem Koffer neben mir unter der Bank, aufgeregt, unsicher, meine Mutter sicher noch viel mehr. Und wenn ich auch nicht viel mitgekriegt habe, an einen Satz der Predigt erinnere ich mich deutlich: Wer wegläuft, ist ein Feigling! Das habe ich gehört in einer Predigt sicher über ganz andere Zusammenhänge, und ob das überhaupt so gesagt worden ist oder bei mir nur so angekommen ist, wer will das von hinterher klären. Fakt ist, dass ich im Gottesdienst laut zu meiner Mutter gesagt habe: „Ich bleibe hier“, und dann mit meinem Koffer wieder nach Hause gegangen bin und meine Patentante ihre 400 Mark, für uns damals viel, viel Geld – zurückbekommen hat.
Und ich flog nicht von der Schule, obwohl mich manchmal wunderte, warum dieses Ereignis nicht eintraf. (Siehe dazu die Erklärung unten, weil die Namensliste der zu Relegierenden eben im Alphabet noch nicht so weit abgearbeitet war!)
4. Beispiel
Aufsatz im Fach Deutsch zu Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“.
Einen Höhepunkt der Angriffe gegen die Junge Gemeinde erlebten wir im Fach Deutsch. Herr Herbert L., unser Klassenlehrer, hatte uns schon einige Tage auf einen Aufsatz vorbereitet, der über alle sechs Schulstunden eines Tages geschrieben werden würde. Als wir in die Klasse kamen, saß dort Herr Rudolf Gahlbeck, unser Kunsterziehungslehrer. Er war einer der interessantesten Lehrer für mich. Wenn er einen ansah, konnte man an nichts anderes mehr denken, so fesselnd war seine Sprache und Ausstrahlung, jedenfalls ging es mir so, und ich konnte keine Vorbereitungen für andere Fächer nebenbei machen, wie sonst. Wir wussten, dass er nicht nur ein sehr humanistisch gebildeter Künstlertyp romantischer Art war (in fast allen Genres hatte er sich versucht, Filmdrehbücher genauso geschrieben wie eine Oper, malte und schnitt meisterhaft, konnte Kunstschriften mit uns üben, hatte Ernst Barlach selber noch gekannt und ihn uns fesselnd als Person nahegebracht, auch den österreichischen Staatspreis für seine Barlachsonette erhalten und das Altarbild im Gemeindehaus der Paulsgemeinde geschaffen, das ich dort immer sah, wenn ich zur Christenlehre oder zum Gottesdienst ging), sondern eben auch praktizierender Christ und im Kirchgemeinderat der Schelf–Gemeinde.
Ich erinnere mich noch ganz genau, wie er einen Umschlag mit dem Aufsatzthema von Herrn L. öffnete, den Zettel las, laut stöhnte und uns dann das Aufsatzthema bekanntgab. Es lautete: „Welche Lehren ziehen Sie aus Ostrowskis ’Wie der Stahl gehärtet wurde` zum Kampf gegen die USA-hörige Junge Gemeinde?“ Herr Gahlbeck stützte danach seinen Kopf in die Hände und machte durch Haltung und Mimik deutlich, dass er weder mit dem Thema einverstanden noch gewillt war, es durchzusetzen bzw unsere Reaktionen zu unterbinden.
Und so haben wir drei Jungens, die wir aus der Klasse in die Junge Gemeinde gingen, uns unverhohlen abstimmen, unterhalten und über unser Verhalten austauschen können. (Durch die strikte Trennung von Jungen und Mädchen in der kirchlichen Jugendarbeit haben wir damals leider kaum intensiven Kontakt zu den Mitschülerinnen unserer Klasse gehabt und nicht gewusst, wer von ihnen ebenso dachte wie wir und zur Jungen Gemeinde gehörte; sie standen aber eben nicht so im Blickpunkt wie wir !)
Wir haben, wenn ich es recht erinnere, ganz unterschiedliche Wege gewählt. Einer sagte: Ich schreibe dazu nichts, gab sofort sein leeres Heft ab und verließ die Klasse; ein anderer protestierte gegen die Unterstellung des Themas; ich versuchte eine inhaltliche Auseinandersetzung in dem Sinne, dass das Thema Aberglauben in dem Buch und Junge Gemeinde fälschlicherweise verglichen seien und habe dann die Passagen des Buches über den Aberglauben geschildert und besprochen. Aber auch das half nichts, mein „Aufsatz“ wurde mit einer 5 benotet.
Uns ist durch dieses Vorkommnis klargeworden, wie stark die Schule in die Auseinandersetzung mit der Jungen Gemeinde einbezogen war, was unsere Angst natürlich verstärkte, andrerseits aber auch einen gewissen Bekennermut provozierte. Dass unser Klassenlehrer kniff und uns nicht selber das Thema zu dem Aufsatz gegeben hat, ließ seine Autorität und sein Ansehen, wenn das noch möglich war, weiter sinken. Das hat am Ende der 10. Klasse, als er uns entnervt abgegeben hat, nicht ohne vorher dafür gesorgt zu haben, dass mehrere Schüler aus der Schule geflogen waren, zum offenen Konflikt mit ihm auf der Klassenfahrt geführt, bei der wir (jedenfalls viele) den sog. „passiven Wanderstil“ einführten. Der sah so aus, dass eine Gruppe konstant 30 Meter vor ihm und die andere 30 Meter hinter ihm ging und konsequent darauf achtete, dass diese Abstände nicht verringert wurden, sodass ihm ein Gespräch mit uns unmöglich gemacht wurde und er spüren musste, wie unbeliebt er bei uns war
5. Beispiel
Schulvollversammlung am 1. April 1953 mit Relegierung von 4 Schülern aus der Jungen Gemeinde (K. Fischer, A. v. Maltzahn, P. Morre`, ....)
Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen.
In unserer Schule gab es wöchentlich wechselnden Schichtunterricht, wir waren vormittags „dran“. Ich war in der 10. Klasse und 15 Jahre alt. Als ich die Treppen zu unserem Klassenzimmer hoch ging, sagte mir ein Schüler, der von einer ähnlichen Versammlung in der Schule II am Vortag nachmittags erfahren hatte, auf mein Bekenntniszeichen (Kreuz auf der Weltkugel) weisend: „Heute geht`s Euch an den Kragen !“ Ich nahm das zunächst nicht weiter ernst, habe mich aber hinterher immer an diesen Satz erinnert. Denn tatsächlich kam gleich zu Unterrichtsbeginn ein Schüler durch alle Klassen, der alle Schüler zu einer Vollversammlung in die Aula im 1. Stock „einlud“.
Als wir die Aula betraten, wunderten wir uns darüber, dass ein großer Teil der Plätze bereits besetzt war. Wie wir gleich erfahren sollten, waren das „Arbeiter aus dem Patenbetrieb der Schule“, wenn ich mich recht erinnere, war das das Klement–Gottwald–Werk (Kranbetrieb). Andere meinen, es wäre die „Bauunion“ gewesen.
Das erhöhte in Zusammenhang mit dem Satz auf der Treppe die Unruhe, die mich erfasste. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich an dem Morgen an der Andacht im Dom teilgenommen hatte, die jeden Morgen vor der Schule von einem aus der JG gehalten wurde; aber gebrauchen konnte ich eine innere Stärkung schon, denn was dann über uns hereinbrach, erschien mir völlig unfassbar und bis heute unverständlich.
Mehrere Lehrer und wohl auch FDJ – Funktionäre saßen vor uns an Tischen und bildeten sozusagen ein Präsidium, der Direktor Herr Bruno B. eröffnete an einem mit rotem Tuch bespannten Rednerpult die Versammlung mit den Worten, dass es nun an der Zeit sei, Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde zu ergreifen, die als Agentenorganisation des Westens auch an unserer Schule Fuß gefasst hätte.
Und ehe wir uns versahen, was überhaupt geschah, forderte er die „Jugendfreunde“ auf, Namen derjenigen zu nennen, die an unserer Schule zu dieser feindlichen Organisation gehören und bat um Wortmeldungen. Und wie aus der Pistole geschossen meldete sich der erste (mit einem kleinen Zettel in der Hand), bekam das Wort, stand auf und sagte: „Ich nenne den Schüler ...... aus der Klasse ......Er gehört schon seit langer Zeit zur Jungen Gemeinde“ und es folgten angebliche Verstöße oder Vergehen, läppisch bzw Lügenkram. Und so ging es mehrfach weiter.
Ich weiß im einzelnen nicht mehr, was alles gesagt wurde, weil mir die Angst in die Glieder gefahren war, erinnere mich aber genau an zwei Dinge, die sich festgesetzt haben. Einerseits wurde versucht, zu argumentieren, es sei ein Zeichen der besonderen Gefährlichkeit dieser „Organisation“,