Der Abituriententag. Franz Werfel
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Franz Werfel
Der Abituriententag
Die Geschichte einer Jugendschuld
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Inhaltsverzeichnis
Motto
Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.
Die Wahlverwandtschaften
Erstes Kapitel
Der Untersuchungsrichter Landesgerichtsrat Doktor Ernst Sebastian tötete die erst halb genossene Zigarre. Er pflegte während seiner Amtshandlungen nicht zu rauchen. Ein Verhör war noch anzustellen. Da die Uhr schon auf sechs ging und die Sonnenstrahlen immer schiefer den Stuhl des Verhörs trafen, der wie ein zusammengebrochener Mensch vor dem Schreibtisch hockte, wollte Sebastian sich beeilen.
Er hatte überdies Burda, dem Gymnasialprofessor Johann Burda, fest versprochen, dem heutigen Abend keinesfalls fern zu bleiben. Es war rührend, wie eifrig sich dieser Burda um das Zustandekommen einer höchst überflüssigen und reichlich verlogenen Feier bemühte! Ein sentimentaler Mensch, der ganz unmerklich die Schulbank mit dem Katheder vertauscht hatte, der sanftäugige Professor Burda! Sein Briefstil, mit dem er den ehemaligen Kameraden bat, ›das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Jahrgangs neunzehnhundertundzwei des Nikolausgymnasiums mit seiner Gegenwart zu beehren« – dieser Stil durfte wahrlich kaum ciceronianisch genannt werden.
Fest entschlossen, dem Kollegentag nicht beizuwohnen, hatte Sebastian den Brief vorerst unbeantwortet gelassen. Doch dann war Burda persönlich bei ihm erschienen, mit kindlicheifrigen Worten die Zusage einmahnend. Diese dringliche Bitte abzulehnen, wäre unhöflich gewesen. Auch mischte sich eine kleine dumpfe Neugierde ins Spiel, die Sebastian gar nicht bemerkte.
Der Landesgerichtsrat war ein Mensch, in dessen Wortschatz der Begriff ›Umstellen‹ eine große Rolle spielte. Die Umschaltung vom Schlaf zum Wachen, vom Dienst zum Leben, vom Urlaub zum Alltag beanspruchte viel Zeit und war mit mancherlei schwerfälligen Umständlichkeiten verbunden. Auch heute würden zwei Stunden das geringste Maß sein, das für die langwierige Prozedur des Umstellens berechnet werden mußte. Die ersten Augenblicke jeglicher Geselligkeit, das Betreten auch eines befreundeten Salons, Gruß, Handkuß, leichtes Gespräch, vorgetäuschte Gelassenheit, all das erforderte selbst in gewohnter Umgebung einen ganzen Mann. Um wieviel mehr Nervenfrische mußte man für das Wiedersehen mit einer Schar von gealterten, einander grundlos duzenden Männern bereit halten!
Sebastian schellte ungeduldig und befahl die Vorführung. in der Zwischenzeit blätterte er den Akt an:
›Mord an der Prostituierten Klementine Feichtinger.‹ Seines Erachtens war die Sache sehr unklar. Doch lag vielleicht die Unklarheit nur darin, daß er sich selber nicht gehörig auf den Fall vorbereitet hatte. Er wußte nicht mehr, ob es äußere Abhaltung oder ein innerer Widerstand gewesen, der ihn gestern beim Studium des Aktes behindert hatte.
Glücklicherweise aber war es das erste Verhör, das er heute mit dem Verdächtigen anstellen sollte.
Sebastian war ein sehr moderner Jurist. Er behauptete zwar, keine Macht der Welt könne den legitimen Kriegszustand aufheben, der zwischen Richter und Angeklagten herrsche, aber da der eine Teil der Kriegführenden, der Richter nämlich, in gar zu gewaltigem Vorteil sich befinde, so wolle es die Menschlichkeit, daß man dem Benachteiligten im Spiele einige ›Punkte vorgebe‹. Er verstieg sich sogar mißbilligenden Kollegen gegenüber zu der Behauptung, der Richter müsse einen Teil seiner Truppen auf Seiten des Feindes kämpfen lassen; dies sei nicht nur im Interesse der Gerechtigkeit, sondern mehr noch zum Erweis der Wahrheit vonnöten. All die bewährten Mittelchen der Untersuchung, Kreuzverhör, Verstrickungsfragen, Widerspruchsfallen, Überraschungsschläge, waren ihm in der Seele verhaßt. Er verdammte sie als den ›malleus maleficarum‹, den rückständigen Hexenhammer, als das Folterreglement der modernen Rechtspflege.
Ernst Sebastian hegte feste Überzeugungen, die er schon des öfteren in kriminalistischen Fachblättern dargelegt hatte.
Da war zum Beispiel gleich ›das erste Verhör‹. Nach seiner Auffassung sollte es in der Form einer zwanglosen Unterhaltung verlaufen. Richter und Beschuldigter müßten zueinander Vertrauen fassen, ehe an eine ersprießliche Weiterarbeit zu denken wäre. Vertrauen könne aber nur dann herrschen, wenn der Richter die menschliche Gleichstellung, die dem Noch-nicht-Verurteilten gebühre, mit aller Höflichkeit des Herzens anerkenne. Eine humane Begegnung beider Parteien, wohlgemerkt beider, müsse stattfinden, damit sich aus der einzigartigen Beziehung des Rechtsverwalters zum Rechtsbrecher der Kristall der Wahrheit bilde.
Sebastian hegte eine wirkliche Leidenschaft für sein Amt, für den gar nicht hochgewerteten Beruf eines Untersuchungsrichters. Hundertmal schon hätte er zu höheren Befugnissen aufrücken sollen. Er war dreiundvierzig Jahre alt, Landesgerichtsrat, der Hofratstitel wartete seiner, dennoch wußte er sich jeder Amtserhöhung zu entziehen. Die Untersuchung war ein Posten für jüngere Leute. In Richterkreisen hieß es, daß für diesen Beruf jeder gewitzte Polizeikommissär genüge. Sebastian war anderer Meinung. Vor einigen Monaten hatte ihn der Justizminister höchstpersönlich zu sich beschieden, um ihn umzustimmen. Vergebens! Man munkelte, Sebastians Ehrgeizlosigkeit sei nichts anderes als Hochmut. Sein Vater hatte zu Zeiten der Monarchie als Präsident des Obersten Gerichtshofes die höchste Richterstelle im Staate bekleidet. Der Sohn sei ein geistreicher Mann und bei der besten Gesellschaft, auf vielen Schlössern Exösterreichs ein gerngesehener Gast. Das genüge ihm.
Der Landesgerichtsrat sah nach der Tür und erhob sich. Es gehörte zu seinen Prinzipien, die Vorgeführten stehend zu empfangen wie Besucher.
Der in diesem Augenblick eintretende Untersuchungshäftling machte den Eindruck eines um mindestens zehn Jahre älteren Mannes, als es Sebastian war. Er blieb in großer Entfernung mit knieweichen Beinen stehen und hielt den Kopf gesenkt, eine Gebärde, die der Richter