Das Marien-Leben. Rainer Maria Rilke

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Das Marien-Leben - Rainer Maria Rilke

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      LUNATA

Das Marien-Leben

      Das Marien-Leben

      © 1912 by Rainer Maria Rilke

      Umschlagbild Albert Braut

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       Geburt Mariä

       Die Darstellung Mariä im Tempel

       Mariä Verkündigung

       Mariä Heimsuchung

       Argwohn Josephs

       Verkündigung über den Hirten

       Geburt Christi

       Rast auf der Flucht in Ägypten

       Von der Hochzeit zu Kana

       Vor der Passion

       Pietà

       Stillung Mariä mit dem Auferstandenen

       Vom Tode Mariä

      Heinrich Vogeler

      dankbar

      für alten und neuen Anlaß

      zu diesen Versen

      Geburt Mariä

      O was muß es die Engel gekostet haben,

      nicht aufzusingen plötzlich, wie man aufweint,

      da sie doch wußten: in dieser Nacht wird dem Knaben

      die Mutter geboren, dem Einen, der bald erscheint.

      Schwingend verschwiegen sie sich und zeigten die Richtung,

      wo, allein, das Gehöft lag des Joachim,

      ach, sie fühlten in sich und im Raum die reine Verdichtung,

      aber es durfte keiner nieder zu ihm.

      Denn die beiden waren schon so außer sich vor Getue.

      Eine Nachbarin kam und klugte und wußte nicht wie,

      und der Alte, vorsichtig, ging und verhielt das Gemuhe

      einer dunkelen Kuh. Denn so war es noch nie.

      Die Darstellung Mariä im Tempel

      Um zu begreifen, wie sie damals war,

      mußt du dich erst an eine Stelle rufen,

      wo Säulen in dir wirken; wo du Stufen

      nachfühlen kannst; wo Bogen voll Gefahr

      den Abgrund eines Raumes überbrücken,

      der in dir blieb, weil er aus solchen Stücken

      getürmt war, daß du sie nicht mehr aus dir

      ausheben kannst: du rissest dich denn ein.

      Bist du so weit, ist alles in dir Stein,

      Wand, Aufgang, Durchblick, Wölbung —, so probier,

      den großen Vorhang, den du vor dir hast,

      ein wenig wegzuzerrn mit beiden Händen:

      Da glänzt es von ganz hohen Gegenständen

      und übertrifft dir Atem und Getast.

      Hinauf, hinab, Palast steht auf Palast,

      Geländer strömen breiter aus Geländern

      und tauchen oben auf an solchen Rändern,

      daß dich, wie du sie siehst, der Schwindel faßt.

      Dabei macht ein Gewölk aus Räucherständern

      die Nähe trüb; aber das Fernste zielt

      in dich hinein mit seinen graden Strahlen —,

      und wenn jetzt Schein aus klaren Flammenschalen

      auf langsam nahenden Gewändern spielt:

      wie hältst du's aus?

      Sie aber kam und hob

      den Blick, um dieses alles anzuschauen.

      (Ein Kind, ein kleines Mädchen zwischen Frauen.)

      Dann stieg sie ruhig, voller Selbstvertrauen,

      dem Aufwand zu, der sich verwöhnt verschob:

      So sehr war alles, was die Menschen bauen,

      schon überwogen von dem Lob

      in ihrem Herzen. Von der Lust

      sich hinzugeben an die innern Zeichen:

      Die Eltern meinten, sie hinaufzureichen,

      der Drohende mit der Juwelenbrust

      empfing sie scheinbar: Doch sie ging durch alle,

      klein wie sie war, aus jeder Hand hinaus

      und in ihr Los, das, höher als die Halle,

      schon fertig war, und schwerer als das Haus.

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