Feuervogel. Peter Schmidt
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Harry war einer jener Suchtkandidaten, die alles konsumierten, was sich auftreiben ließ. Naturgemäß waren das vor allem die billigeren Drogen: Alkohol und Nikotin.
Harry hatte bisher allen noch so ausgeklügelten Behandlungsmethoden widerstanden, die von den Psychologen der Stiftung entwickelt worden waren. Sobald er die Klinik verließ, holte er alles nach, was er bei seiner Entwöhnung versäumt hatte.
Vielleicht, so dachte Victor Jacobi achselzuckend, war Feuervogel ja nur eine neue Ausgeburt seines Delirium tremens?
5
Klinger hasste es, warten zu müssen. Man sagte ihm nach, er sei manchmal etwas arrogant. Arrogant, weil er schnell durchschaute, was seine Mitmenschen umtrieb – oder weil er andere gern spüren ließ, dass er ihnen geistig überlegen war. Er selbst hätte es eher als Ungeduld bezeichnet.
Er wartete jetzt schon eine halbe Stunde auf den Chef des Lufthansa-Büros, und während er sich auf die schwarze Ledercouch im Vorzimmer flegelte, machte er keinen Hehl aus seiner Missbilligung und gähnte ausgiebig.
Die schlanke Brünette am Schreibtisch war gar nicht so übel. Sie warf manchmal verstohlene Blicke zu ihm hinüber und grinste. Es juckte ihn, aufzustehen und mit ihr zu sprechen. Aber wahrscheinlich konnte sie ihm auch nicht weiterhelfen?
Dann hatte er plötzlich eine Idee …
„Hab’ ich Sie nicht auf der Beerdigung Ihres Bruders gesehen?“, fragte er und erhob sich langsam von der Couch.
„Meines Bruders?“
„Des zweiten Anschlagopfers – Sie wissen schon: das Top-Air-Restaurant über dem Terminal vier?“ Klinger machte eine theatralische Bewegung mit beiden Händen, als fliege über ihnen die Decke in die Luft.
„Das war nicht mein Bruder.“
„Der Mann aus der Anstalt“, erläuterte er. „Die Behörden behaupten, bei Ihrem Bruder habe es sich um einen kürzlich aus der Psychiatrie entflohenen Verrückten gehandelt?“
Sie starrte ihn an, als sei er nicht ganz richtig im Kopf.
„Von wem haben Sie denn diesen Unsinn? Mein Bruder lebt in der Schweiz und ist mindestens genauso richtig im Kopf wie jeder andere hier im Büro.“
“Ihr Bruder ist gar nicht bei dem Anschlag ums Leben gekommen?“
„Nein.“
„Oh, bitte entschuldigen Sie. Wer hat denn nur diese Ente in die Welt gesetzt?“
„Soweit ich weiß, ist der Mann noch gar nicht beerdigt.“
„Dann muss ich Sie wohl auf einer anderen Beerdigung gesehen haben.“
„Sind Sie von der Polizei?“
„Nein.“ Klinger sah auf seine Armbanduhr. „Gleich zwölf. Haben Sie eigentlich niemals Mittagspause?“
„Doch, um halb eins. Das Büro schließt für eine Stunde.“ Sie zeigte auf das Schild an der Glastür.
„Kann ich Sie vielleicht … ich meine, um meinen Fauxpas wiedergutzumachen? Darf ich Sie zum Essen einladen?“
„Nein, das wäre wirklich nicht …“
„Sie würden mir eine große Freude damit machen. Und Ihrem Chef scheint ja wohl etwas dazwischengekommen zu sein?“
In diesem Augenblick klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch.
Sie nahm ab, nickte Klinger kurz zu und sagte: „Geht in Ordnung“ in den Hörer. „Herr Haller wird leider nicht vor drei Uhr hier sein. Eine Besprechung in der Zentrale wegen der Anschläge – tut mir leid.“
Dass sie Linda hieß, machte die Sache auch nicht leichter für ihn. Linda war eine unerwiderte Jugendliebe gewesen, die erste große Katastrophe seines Lebens.
Diese Linda hier nahm es mit der Geheimhaltung – oder dem, was sie dafür hielt – genauer als ein deutscher Finanzbeamter. Zumindest beim Essen. Sie stopfte Unmengen von Salaten und Nudeln mit Putenfleisch in sich hinein.
„Wo lassen Sie das bloß alles, Linda?“, feixte er.
„Mein Stoffwechsel … hat schon Dutzende von Männern verschlissen, die so leichtsinnig waren, mich zum Essen einzuladen …“
Ihr Alkoholkonsum war auch nicht von schlechten Eltern. Linda war bereits bei der zweiten Halbliter-Karaffe Weißwein angelangt. Klinger trank Mineralwasser.
„Und Sie haben wirklich keinen Schimmer, wo die Beerdigung des Toten im Top-Air stattfindet?“
„Nein. Wird ja wohl auch nicht mehr allzu viel von ihm übrig sein, oder? Eine der beiden Bomben soll nur zwei Meter von ihm entfernt explodiert sein. Warum interessiert Sie das eigentlich?“
„Aus privaten Gründen.“
„Sind Sie Privatdetektiv?“
„Nicht direkt.“
Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und küsste sie sanft auf den Hals.
„Lassen Sie … das kitzelt!“
„Was halten sie davon, wenn ich Sie heute Abend zum Kino einlade, Linda?“
„Wozu denn? Damit ich ausplaudere, was ich über den Toten weiß?“
„Nein, aus rein privatem Interesse.“
„Um zu erfahren, dass der Mann Südamerikaner war, müssen Sie mich doch nicht gleich ins Kino einladen“, flüsterte Linda ihm ins Ohr.
„Er war Südamerikaner? Sind Sie sicher?“
„Sonst würd’ ich’s nicht sagen.“
„Welcher Nationalität?“
„Hm – Venezolaner, glaub ich.“
„Und wer hat Ihnen das gesteckt? Ich meine, die offizielle Version lautet doch ein wenig anders?“
„Hab’s wegen der Papiere mitbekommen. Die waren nämlich noch in seiner Jacke, weil sie beim Essen am Stuhl gehangen hatte. Die Explosion hatte den Stuhl mitsamt der Jacke in den hinteren Teil des Restaurants geschleudert. Deshalb wurde sie bei der Bergung der Leiche unter den Trümmern nicht sofort entdeckt. Ein Angestellter des Restaurants brachte sie später in unser Büro und bat mich, sie der Polizei zu übergeben.“
„An den Namen des Toten erinnern Sie sich nicht zufällig?“
„Sie denken, ich hätte in seinen Papieren geschnüffelt?“
„Ich würd’s nicht unbedingt Schnüffeln nennen wollen“, wiegelte er ab. „Schließlich waren in Ihrer unmittelbaren Nähe ein paar Bomben hochgegangen.“
„Ramon