Eine langweilige Geschichte. Anton Tschechow

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Eine langweilige Geschichte - Anton Tschechow

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große Schneehaufen. Auf einen frischen jungen Menschen, der aus der Provinz kommt und die Vorstellung mitbringt, der Tempel der Wissenschaft werde auch in seiner äußeren Erscheinung ein Tempel sein, kann ein solches Tor keinen guten Eindruck machen. Überhaupt muß man sagen: die Baufälligkeit der Universitätsgebäude, die Dunkelheit der Korridore, die verstaubten, verräucherten Wände, der Mangel an Licht, das klägliche Aussehen der Stufen, der Kleiderhaken und der Bänke, dies alles nimmt in der Geschichte des russischen Pessimismus einen der ersten Plätze unter den prädisponierenden Ursachen ein. Da ist auch unser Universitätsgarten. Seit meiner eigenen Studentenzeit ist er, wie ich glaube, nicht besser und nicht schlechter geworden. Ich kann ihn nicht leiden. Es wäre weit verständiger, wenn statt der schwindsüchtigen Linden, der gelblichgrünen Akazien und des dürftigen, beschnittenen Flieders dort hohe Fichten und kräftige Eichen wüchsen. Der Student, dessen Stimmung meist durch seine Umgebung stark beeinflußt wird, muß da, wo er studiert, auf Schritt und Tritt nur Hohes, Kräftiges und Schönes sehen. Bewahre ihn Gott vor dem Anblick dürrer Bäume, zerbrochener Fensterscheiben, grau gewordener Wände und mit zerrissenem Wachstuch beschlagener Türen!

      Wenn ich mich derjenigen Tür des Universitätsgebäudes nähere, die zu meinen Räumen führt, so öffnet sie sich, und es begrüßt mich mein langjähriger Dienstgenosse, Altersgenosse und Namensvetter, der Portier Nikolai. Nachdem er mich eingelassen hat, räuspert er sich und sagt:

      »Es ist kalt heute, Euer Exzellenz!«

      Oder wenn mein Pelz naß ist, bemerkt er:

      »Es regnet heute, Euer Exzellenz!«

      Darauf läuft er vor mir her und öffnet auf meinem Wege alle Türen. In meinem Arbeitszimmer nimmt er mir behutsam den Pelz ab und teilt mir gleichzeitig schleunigst irgendeine Universitätsneuigkeit mit. Dank der nahen Bekanntschaft, die zwischen allen Universitätsportiers und -pedellen besteht, weiß er alles, was in den vier Fakultäten, in der Kanzlei, im Arbeitszimmer des Rektors und in der Bibliothek vorgeht. Was bliebe ihm unbekannt? Zu Zeiten, wo bei uns zum Beispiel der Rücktritt des Rektors oder eines Dekans die brennende Tagesfrage bildet, höre ich manchmal, wie er im Gespräche mit jüngeren Pedellen die Kandidaten aufzählt und zugleich erläuternd bemerkt, den und den werde der Minister nicht bestätigen, der und der werde selbst verzichten, und wie er sich dann in phantastischen Einzelheiten ergeht über geheimnisvolle Schriftstücke, die in der Kanzlei eingegangen seien, über eine geheime Unterredung zwischen dem Minister und dem Kurator usw. Sieht man von diesen Einzelheiten ab, so erweist sich, daß er im allgemeinen fast immer recht hat. Die Charakteristiken, die er von einem jeden der Kandidaten gibt, sind originell, aber gleichfalls zutreffend. Wer etwa zu erfahren wünscht, in welchem Jahre jemand seine Dissertation verteidigt hat, ins Amt getreten ist, sich hat pensionieren lassen oder gestorben ist, der rufe das gewaltige Gedächtnis dieses ehemaligen Soldaten zu Hilfe; dieser wird nicht nur das Jahr, den Monat und den Tag angeben, sondern auch über die näheren Umstände Mitteilung machen, die das eine oder andere Ereignis begleitet haben. So sich erinnern kann nur, wer mit dem Herzen dabei ist.

      Er ist der Hüter der Universitätstradition. Von seinen Vorgängern im Portiersamt hat er viele Legenden aus dem Universitätsleben geerbt; zu diesem Schatz hat er dann viel eigenes Gut hinzugefügt, das er in seiner Dienstzeit erworben hat, und wenn jemand ein Verlangen danach äußert, so erzählt er ihm eine Menge langer und kurzer Geschichten. Er kann von außerordentlich klugen Männern erzählen, die »alles wußten«, von merkwürdig arbeitsfähigen Professoren, die ganze Wochen lang nicht schliefen, von zahlreichen Märtyrern und Opfern der Wissenschaft; das Gute triumphiert in seinen Erzählungen immer über das Böse, der Schwache besiegt den Starken, der Kluge den Dummen, der Bescheidene den Stolzen, der Junge den Alten. Man braucht ja nicht gerade alle diese Legenden und Erdichtungen für bare Münze zu nehmen; aber man filtriere sie, und es wird als Rückstand etwas Brauchbares auf dem Filter bleiben: unsere guten Traditionen und die Namen wahrer, allgemein anerkannter Geistesheroen.

      Was man in der sogenannten besseren Gesellschaft unserer Stadt über die Welt der Gelehrten weiß, das sind lediglich Anekdoten über außergewöhnliche Zerstreutheit alter Professoren, sowie zwei oder drei Witze, die bald auf Gruber, bald auf mich, bald auf Babuchin zurückgeführt werden. Für die gebildete Gesellschaft ist das eigentlich etwas wenig. Wenn diese Kreise die Wissenschaft, die Gelehrten und die Studenten so liebten, wie es Nikolai tut, so würde die hiesige Literatur schon längst ganze Heldengedichte, Erzählungen und Biographien aus diesem Gebiete besitzen, deren sie jetzt leider ermangelt.

      Nachdem Nikolai mir seine Neuigkeit mitgeteilt hat, nimmt sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an, und es entspinnt sich zwischen uns ein fachmännisches Gespräch. Wenn ein Fremder dabei mit anhörte, wie flott Nikolai die Terminologie handhabt, so könnte er vielleicht gar denken, das sei ein als Portier maskierter Gelehrter. Aber beiläufig gesagt: die Gerüchte über die Gelehrsamkeit der Universitätsunterbeamten sind stark übertrieben. Allerdings kennt Nikolai über hundert lateinische Benennungen, versteht sich darauf, ein Skelett zusammenzufügen, unter Umständen auch ein Präparat herzustellen, die Studenten durch irgendein langes, gelehrtes Zitat zum Lachen zu bringen; aber zum Beispiel die so einfache Lehre vom Blutumlauf ist ihm jetzt noch ebenso dunkel wie vor zwanzig Jahren.

      An einem Tische in meinem Arbeitszimmer sitzt, tief über ein Buch oder ein Präparat gebeugt, mein Prosektor Peter Ignatjewitsch, ein fleißiger, bescheidener, aber talentloser Mensch, etwa fünfunddreißig Jahre alt, aber schon kahlköpfig und dickbäuchig. Arbeiten tut er vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein; er liest eine große Menge und hat für alles Gelesene ein vorzügliches Gedächtnis. In dieser Hinsicht ist er Goldes wert; aber im übrigen ist er ein Lastpferd oder, wie man sich auch auszudrücken pflegt, ein gelehrter Dummkopf. Die charakteristischen Merkmale des Lastpferdes, durch die dieses sich von einem talentvollen Manne unterscheidet, sind folgende: sein Gesichtskreis ist eng und scharf begrenzt, da er eben nur ein Spezialfach umfaßt; außerhalb seines Spezialfaches ist ein solcher Mann naiv wie ein Kind. Ich erinnere mich, daß ich eines Morgens in das Arbeitszimmer hereinkam und sagte:

      »Denken Sie sich, dieses Unglück! Es heißt, Skobelew sei gestorben.«

      Nikolai bekreuzte sich, Peter Ignatjewitsch aber sah mich an und fragte:

      »Was für ein Skobelew?«

      Ein andermal (es war etwas früher) teilte ich ihm mit, daß Professor Perow gestorben sei. Der gute Peter Ignatjewitsch fragte:

      »Worüber hat er denn gelesen?«

      Und wenn dicht vor seinen Ohren die Patti zu singen anfinge, wenn Chinesenhorden über Russland herfielen, wenn ein Erdbeben stattfände, so würde er vermutlich kein Glied rühren und seelenruhig mit zusammengekniffenem Auge in sein Mikroskop hineinsehen. Mit einem Worte: was kümmert ihn Hekuba? Ich würde viel darum geben, einmal zu sehen, wie dieser trockene Stock bei seiner Frau schläft.

      Ein zweiter Charakterzug eines solchen Menschen ist: ein fanatischer Glaube an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft und namentlich alles dessen, was die Deutschen schreiben. Er hat ein festes Vertrauen zu sich selbst und zu seinen Präparaten, kennt nach seiner Überzeugung den Zweck des Menschenlebens und weiß absolut nichts von jenen Zweifeln und Enttäuschungen, von denen talentvolle Männer graue Haare bekommen. Er hegt einen sklavischen Respekt vor Autoritäten; das Bedürfnis, selbständig zu denken, kennt er nicht. Ihn zu einer andern Ansicht zu bringen ist schwer, mit ihm zu disputieren unmöglich. Man disputiere einmal mit einem Menschen, der fest überzeugt ist, die beste Wissenschaft sei die Medizin, die besten Menschen die Ärzte, die besten Traditionen die medizinischen. In Wirklichkeit hat sich von der recht üblen Vergangenheit der Medizin nur ein einziger traditioneller Brauch erhalten: die weiße Krawatte, die die Doktoren jetzt tragen, und für einen Gelehrten und überhaupt für einen Gebildeten gibt es nur allgemein akademische Traditionen, ohne jede Scheidung in medizinische, juristische usw.; aber Peter Ignatjewitsch kann sich nicht entschließen, das zuzugeben, und ist bereit, mit einem anders Gesinnten

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