Der Sündenfall. Helmut H. Schulz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Sündenfall - Helmut H. Schulz страница
Helmut H. Schulz
Der Sündenfall
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I
Die Gemeinde Groß-N. zählte 1945 etwa zweitausend Einwohner, soviel wie heute in einem großstädtischen Hochhauskomplex untergebracht werden können. Der Ort zerfiel räumlich und sozial in zwei Hälften, das Dorf und die Siedlung. Landwirtschaftliche Nutzflächen fehlten der Siedlung, dafür hatte sie die schönere Umgebung zwischen einem See und einem Fluss. Ein breiter Streifen Niederung, der seltenen Wasservögeln, Lurchen und Schlangen Lebensraum bot und den Fressern dieser Tiere - Storch, Weihe und Reiher -, machte sie zu einem malerisch schönen Ort. Die eigenartige Natur des Flussgebietes hatte die Siedlung überhaupt erst entstehen lassen. Anfang der dreißiger Jahre siedelten hier vereinzelt Großstädter, bauten Lauben und kleine Wochenendhäuser, zäunten Parzellen ein und verbrachten ihre freie Zeit in den Gärten und am See. Elektrisches Licht galt als Luxus und gutes Wasser, das aus kleinen Brunnen von Hand gepumpt wurde, als ein Segen.
Diese Verhältnisse blieben im Großen und Ganzen bis ins Jahr 1960 erhalten. Zwar wurde im Dorf eine Genossenschaft gegründet, aber nur wenige Bauern traten ihr bei; die Mehrzahl arbeitete in der herkömmlichen Weise, verkaufte Holz aus eigenen Wäldern, wenn die Ernte schlecht ausfiel, und züchtete Schlachtvieh.
Zwischen dem Dorf und der ungefähr zwölf Kilometer entfernten Kleinstadt verkehrte seit den zwanziger Jahren ein Autobus; zuerst ein postalischer, dann erhielt ein Fuhrunternehmer die Konzession. Der Autobus 7 transportierte Dörfler wie Siedler bis zur Bahnstation der Kleinstadt, von dort bestand eine Eisenbahnverbindung zur Großstadt R.
Die Flächenbombardements machten zahlreiche Menschen obdachlos. Wer konnte und schon vor dem Krieg hier Wochenendbehausungen besessen hatte, zog sich ganz nach Groß-N. zurück, um das Ende des Krieges abzuwarten. Die zur Arbeit Verpflichteten mussten allerdings weite Wege zu ihren Dienststellen in Kauf nehmen, ein Ausweg in auswegloser Lage. Die Zeit unmittelbar nach dem Kriege änderte diese von selbst entstandenen Bedingungen nicht sogleich, obschon viele der in Lauben und Holzhütten mehr schlecht als recht Lebenden gern wieder in die Stadt zurückgegangen wären; sie galten als Landbevölkerung, erhielten Lebensmittelkarten, aber die niedrigsten Rationen, und standen furchtbare Winter durch, ohne feste Häuser, ohne Kohlen, die der Landbevölkerung verweigert wurden. Wem es möglich war, der versuchte sich selbst zu helfen, fing an, den Garten besser zu bestellen, düngte, säte und pflanzte Kartoffeln, züchtete oder hielt zumindest Kleinvieh, Hühner, Kaninchen, Enten. Manch einer rang der Natur seinen Lebensunterhalt ab, aber ringen ist der falsche Ausdruck, die Natur spendete nach den ihr eigenen Regeln. Trockenheit, Kälte und Unwetter machten häufig alle Bemühungen zunichte. Andererseits gab es auch reiche Ernten. So wurden aus den Stadtflüchtlingen Sesshafte, die in der Umgebung Arbeit fanden. Später waren sie eine Bereicherung für die umliegenden Ortschaften, lebten nebeneinander und miteinander, in Frieden und Streit, und wenn es stimmt, daß in solch kleinen menschlichen Gemeinschaften alle Wege überschaubarer sind als in der Stadt, so war Groß-N. ein Beleg dafür.
Überschaubar ist das Leben in Dorf und Siedlung gewesen. Jeder wusste, was jeder tat, wovon und wie er lebte; Toleranz erzeugte diese Kenntnis aber nicht. Viel gefehlt hätte nicht, und die Bewohner der Gemeinde Groß-N. wären mit Axt und Schwert aufeinander losgegangen, wie in alten Zeiten, um ihre Konflikte zu lösen. Es geschah genug, was erzählenswert ist, so idyllisch fossil wie die Natur war auch die Menschenwelt dieser Gegend in der Zeit, in der unsere Geschichte beginnt.
In der Siedlung lebte ein Mann. Er war gegen Ende des Krieges in eines der Häuser gezogen, weil er seine Stadtwohnung verloren hatte. Von Beruf Handwerker, schon nicht mehr jung und schwer verwundet aus dem Krieg entlassen, musste er als Dienstverpflichteter in einer der nahe gelegenen Fabriken arbeiten. Nach dem Krieg änderte sich daran nichts, morgens fuhr er mit dem Bus, mit der Eisenbahn in den nun schon volkseigenen Betrieb, abends machte er dieselbe Tour zurück. Er bestellte seinen Garten, zog Kleinvieh, besserte an seinem Haus herum und reparierte nebenbei die Maschinen der Bauern. Diese mochten ihren Hermann Zander wegen seiner Gewissenhaftigkeit, seines Fleißes und seiner Erfindungsgabe. Leicht hätte er sich selbstständig machen können. Mit einem Reparaturbetrieb wäre er gut gefahren, zumal er bald nach dem Krieg eine Frau genommen hatte, die zu ihm passte wie keine Zweite. Eine ihm selbst nicht ganz erklärliche Furcht oder Zukunftsangst hielt ihn ab, seine sichere Stelle in der Fabrik gegen das unsichere Leben eines Selbstständigen einzutauschen. Es gab noch ein Hindernis. Gegen Ende des Jahres 1945 war Zander in die Kommunistische Partei eingetreten; er hatte geglaubt, in dieser Partei und mit ihr in eine bessere Zukunft zu marschieren, und darüber nachgedacht, ob und wie viel Schuld an der Hitlerherrschaft und am Krieg ihn traf, und war zu dem Schluss gekommen, daß die Kommunisten am saubersten dastanden. Wie die neue Welt, die sie versprachen, aussehen würde, das konnte sich Zander nicht ganz vorstellen. Zunächst tat er, was ihm die Partei sagte, ohne zu prüfen, wie viel daran richtig und wie viel falsch, wenn überhaupt etwas falsch war. Er trieb im Strom der Zeit mit denen, die auch entwurzelt waren und neuen Grund suchten.
Er kannte noch die Jahre der Weimarer Republik mit ihren Parteien und Auseinandersetzungen. Damals war er nicht auf den Gedanken gekommen, sich einer der Parteien anzuschließen. Ihn verwirrten das ihm unerklärliche Chaos in der Politik und die Gewalttätigkeiten. Die Krise 1929 machte ihn, den zwanzigjährigen Werkzeugmacher, nicht brotlos. Er hatte Glück, aber von der Sache selbst, der sozialen Katastrophe, der Massenarbeitslosigkeit, begriff Zander