Der Sündenfall. Helmut H. Schulz

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so hatte Barbara den allerschlechtesten Ruf: Fast immer störte sie beim Spiel. Launisch und zänkisch, stellte sie die höchsten Ansprüche an andere, wollte immer Mittelpunkt sein. Trotzdem hatte sie Freundinnen und wurde von den Kindern als Gefährtin geschätzt. Nichts trug sie schwerer, als wenn sie verspottet wurde, und nichts taten die Kinder lieber, als sie zu reizen, nachdem einmal klar geworden war, daß Barbara außer sich geraten konnte, wenn sie geneckt wurde. Wusste sie nicht mehr aus noch ein, schlug sie um sich, kratzte und biss. Mehr als einmal erging es ihr dabei schlecht. Bei einer dieser von ihr angezettelten Prügeleien - sie lag unten, ein Knäuel Kinder über ihr - erschien ihr großer Nachbar auf dem Plan. Körperliche Gewalt widerstrebte ihm, obgleich er sich auch schlagen konnte. Barbara gönnte er zudem eine kleine Abreibung, denn auch er empfand sie als maßlos anspruchsvoll. Dann aber, zu seinem Erstaunen, griff er doch ein und befreite sie von ihren Gegnern. Er, der nie tat, was er nicht wollte, handelte hier eigentlich gegen seine Überzeugung, da sie eine Tracht Prügel verdiente, und er war sich des Widerspruchs bewusst. Dieses belanglose Ereignis beschäftigte ihn noch lange und nicht nur, weil er damit eine Beschützerrolle übernommen hatte. Auf dem Nachhauseweg war ihm von Barbara mit großer Eindringlichkeit gesagt worden: «Du sollst mein Mann werden.»

      Überblickt man die Entwicklung der Beziehung zwischen den Nachbarn in diesen Jahren, so scheint eine geheime Katastrophenregie am Werk. Wie in einem Gärbottich wurde das Gemisch allmählich bis zur stürmischen Gärung gebracht; die Kinder waren die Hefe, das Treibmittel in einem allzu ruhig kreisenden Gemenge. Barbara, das schlaue Mädchen mit frühem weiblichem Instinkt und erstaunlichem Gefühlsgedächtnis, schuf sich in Georg einen Ersatzvater, da ihr eigener ihren Ansprüchen nicht genügte. Behrend besaß weder ausreichend Gemüt noch so viel Intelligenz, um Freude an einem solchen Kind zu haben, das schwierig war und widersetzlich, aber voller Einbildungskraft. Sie weckte sein Interesse nicht, obschon er sie hübsch fand und von Zeit zu Zeit, je nach Laune, beschenkte. Zu ihrer Mutter hatte Barbara kein schlechtes Verhältnis, nur verstand die überarbeitete, oft gereizte Frau ihre sprunghafte Tochter nicht.

      Barbara zog es zu einem Mann, zu einem Wesen, das anders war als sie, anders roch, anders sprach, dessen Stimme tiefer klang und dessen Hände streichelten. Ihr Vater nannte sie deswegen Schmierkatze und schob sie weg; auch der Mutter war Zärtlichkeit fremd. Hätte sich jemand mit Barbaras Träumen befasst, so würde er bald entdeckt haben, daß es darin von Männern wimmelte, von gewalttätigen, rauen, die ängstigten und verfolgten, denen sie sich aber unterwarf, wenn sie die Arme öffneten. Wären sie nur Menschen gewesen und nicht die Gefühlsfiguren ihrer Träume! Einer konnte sich ihr nicht entziehen, und er besaß die Züge der Traumgestalten und war überdies den Männern der wirklichen Welt überlegen und offen für eine Hingabe, die sie immer wieder intrigant auf die Probe stellte. Sie drängte ihn in die Rolle ihres Beschützers, schob ihre Hand in die seine, aber sie leitete ihn mehr als er sie. Wurde er zornig und kehrte er den Mann hervor, war ihr das nur recht. Oft versuchte sie ihm körperlich näherzukommen, rang mit ihm, obschon er die Balgerei nicht mochte. Einmal, als sie ihn mit Armen und Beinen fest umschlang, um ihn zu Boden zu ringen, brachte sie sich selbst zu Fall und kam zu einem frühen Erlebnis. Die Reibung ihres Körpers an seinem und eine unklare Sehnsucht hatten genügt, um eine weibliche Empfindung in ihr auszulösen. Sie erstarrte bei dem ihr unerwarteten Ereignis und glitt zur Seite. Georg glaubte, ihr wehgetan zu haben. Erschrocken über ihren Gesichtsausdruck, redete er auf sie ein; sie sah ihn nur nachdenklich an. Er verließ sie mit dem Gefühl, dieses Rätsel besser ungelöst zu lassen, sie war acht Jahre alt, er vierzehn, als das geschah.

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