Intercity nach Mailand - vielleicht. Brigitte Krächan

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Intercity nach Mailand - vielleicht - Brigitte Krächan

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die Bahnhofsuhr fünf Uhr zeigte, hatte er immer noch nicht angerufen. Wieso rief er nicht an? Karin wurde nervös. Wenn er zu Hause wäre, würde er anrufen. Ganz bestimmt. Wieso war er noch nicht zu Hause? Karin blickte wieder in die Bahnhofshalle hinab. Zwei Mitarbeiter des Roten Kreuzes schoben einen Mann im Rollstuhl zum Zug. Sie hatte nicht gewusst, dass es für Rollstuhlfahrer besondere Türen am Zug gab. Sie halfen dem Mann in den Zug. Die Tür schloss sich. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, wählte Karin die Handynummer ihres Mannes.

      „Ebert?“, seine Stimme klang überrascht, „ich bin gerade heimgekommen. Wo bist Du?“ Karin schluckte.

      „Wieso bist Du so spät? Ist etwas passiert?“, fragte sie.

      „Nein, alles in Ordnung“, antwortete er ungeduldig, „ich bin am Tierheim vorbeigefahren. Es wäre gut, wenn Du da wärst, das blöde Vieh hat mir den ganzen Arm zerkratzt und sitzt jetzt fauchend unter dem Sofa. Wo bist Du?“

      Karins Stimme zitterte: „Ich bin am Hauptbahnhof. Ich habe einen Koffer dabei. Ich bin gerade angekommen.“ Sie zögerte. „Gewissermaßen“, fügte sie hinzu, „kannst Du mich abholen?“

      Stille. Einen langen quälenden Moment fürchtete Karin, er würde einfach auflegen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme anders als sonst, weicher, fast so wie früher: „Ich komme. Und hör auf zu weinen, was sollen denn die Leute denken!“

      Karin zahlte und fuhr mit ihrem Koffer in die Bahnhofhalle hinab. Gemeinsam mit anderen Reisenden ging sie zum Ausgang.

      Sie weinte.

      Leute, die ihr entgegenkamen, bemerkten es und sahen ihr Lächeln und dachten, es wären Freudentränen.

      Cato – Besser geht’s nicht

       „Ich liebe Dich! Und ich werde Dich nie mehr verlassen.“ Eves dunkelbraunes, langes Haar, das sie mit einem leuchtend gelben Band zurückgebunden hatte, flatterte im Fahrtwind. Der rote Ferrari fuhr in zügigem Tempo die schmale Küstenstraße hinunter. Ein tiefblaues Meer, glitzernd in der Nachmittagssonne, säumte die steil abfallenden Felsen.

       „Ich weiß“, lächelte er Eve zu. Ein perfekter Tag. Er trat das Gaspedal durch. 460 PS. In 3,8 Sekunden von Null auf Hundert. Die Straße machte eine scharfe Linkskurve. Der Ferrari durchbrach die Leitplanke. Eve schrie. Ihre roten Fingernägel krallten sich in seinen Unterarm. Er genoss das unbeschreibliche Gefühl der grenzenlosen Freiheit, als der Wagen über die weißen Klippen raste dem endlosen, blauen Meer entgegen.

      „Was stehst Du da und glotzt? Nimm Deine dreckigen Finger von meinem Wagen und mach, dass Du weiter kommst!“

       Der Alte wird grob zur Seite gestoßen.

       „Reg Dich ab, junger Scheißer“, murmelt er. Vor ein paar Jahren hätte sich das keiner getraut. Sie kannten ihn und hatten Respekt. Dann kam der Tag, an dem er einen Kampf auf der Straße verlor. Krankenhaus, Rippenbrüche, Gehirnerschütterung. Er hätte drauf gehen können. Er überlebte. Leider. Er verlor den Kampf und ihren Respekt. ‚Wenn du einen Kampf verloren hast, lässt du dich besser auf keinen mehr ein.‘ So wurde er zum alten Mann. Über Nacht. Weg von dem Kerl, den sie respektierten, hin zu den Pennern auf den Bänken am Getränkemarkt.

      So schnell ging das.

      Langsam geht der Alte weiter. Im Vorübergehen fischt er eine Dose aus dem Mülleimer. Konsumgesellschaft. Überfluss. Sie haben es nicht nötig. Zehn Dosen. Das ergibt eine Flasche Wein vom Getränkemarkt. Der billige. Aber Wein ist Wein. Ein Päckchen Tabak. Eine Flasche Korn. Dafür reicht sein Geld gerade noch. Vielleicht Wein, wenn er genügend Pfand sammelt.

       Eve. In einem roten Flitzer ist sie davon gefahren. Ist zu dem Kerl ins Auto gestiegen. Weg war sie. Sie nutzte ihn nur aus. Wie alle. Er traf sie in der Kneipe. Ihr Freund hatte sie vor die Tür gesetzt. Sie zog bei ihm ein. Sie schlief in seinem Bett. Sie rauchte seinen Tabak und leerte seinen Kühlschrank. Sie redeten. Aber sie ließ ihn nie ran. Eve nutzte ihn auch nur aus. Dann war sie weg.

      Danach ging er nicht mehr zum Arbeitsamt. Sie kürzten die Leistung. Er beschloss für die Bruchbude keine Miete mehr zu zahlen. Er würde sich nicht mehr ausnutzen lassen. Sie schickten die Kündigung und setzten ihn auf die Straße. Pfänden konnten sie nichts. Er hatte alles zu Geld gemacht. Das Amt wies ihm ein Zimmer zu. Stuhl, Tisch, Schrank, Bett, Waschbecken, Kochplatte, Kühlschrank. Scheißhaus auf der Etage. Sie sagten, er verweigere die Arbeitsaufnahme. Das stimmte nicht. Er war bereit, gute Arbeit zu leisten. Für gutes Geld. Aber so etwas gab es nicht mehr. Zeitarbeiter im Schichtdienst. Ewig mit dem Bus unterwegs. Für ein paar Euro. Es hätte zum Leben sowieso nicht gereicht. Dann doch lieber Hartz IV. Das war einfacher.

      Eine Woche wohnte er in dem Zimmer. Danach wusste er: Er war endgültig auf der Seite der Verlierer angekommen. Er besorgte sich Tabletten und eine Flasche Korn. Er wollte einen Abschiedsbrief schreiben. Freiheit. Selbstbestimmtes Leben. Er fand noch nicht einmal ein ordentliches Stück Papier. Und an wen hätte er schreiben sollen? Dann eben ohne. Er machte die Flasche auf, um sich Mut anzutrinken.

      Der Gestank weckte ihn. Dafür schämt er sich bis heute. Das Laken schmiss er weg. Das nächste Geld vom Amt investierte er in einen Fernseher. Fünfzig Zoll. HD. Er aß einen Monat lang Kartoffeln, trank bei den andern mit, rauchte was er am Boden aufsammelte. Jetzt teilt er sein Geld besser ein. Meistens reicht es für mehr als den halben Monat. Noch zehn Tage. Er wird zum Pfandsammeln in den Stadtpark gehen. Morgen. Vielleicht. Jetzt zum Getränkemarkt. Er braucht Tabak.

      Der Alte biegt auf die Brücke ein.

       Hier begann es. Besser: Hier sollte es enden. Sie hatten ihn nur ausgenutzt. Er hatte gute Arbeit geleistet. Aber er hatte das Maul zu weit aufgerissen. Sie hatten ihn rausgeschmissen.

      Dann stand er dort: Auf der anderen Seite des Geländers. Sein Sprung in die Freiheit. Damals hatte er sein ganzes, beschissenes Leben noch vor sich. Damals hätte er es zu Ende bringen sollen. Aber er bringt nie etwas zu Ende. Sein Leben ist falsch. Zur falschen Zeit geboren. Ehrlichkeit, Mut, Selbstbestimmung, Rechtschaffenheit. Das zählt nicht mehr. Cato brachte sich um, weil er lieber sterben wollte, als seine Freiheit zu opfern. Cato ging stolz und selbstbestimmt in den Tod. Cato konnte sein Leben einsetzen, um sich Ruhm und Anerkennung zu kaufen. Cato, ein Selbstmörder und trotzdem ein Held. Mit dem Aufsatz beeindruckte er sogar seinen Deutschlehrer.

       Quatsch! Belüg dich nicht selbst, alter Mann! Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Aufsatz geschrieben! Du hast noch nie ein Gymnasium betreten. Du hättest es tun können, wenn sie dich gelassen hätten. Bestimmt!

      Fünfzig Zoll. HD. Der Bericht über Cato. Da wusste er: Er war zur falschen Zeit geboren. Cato, das war einer, der dachte wie er. Cato hatte Stolz und Ehre und starb lieber, als seine Freiheit aufzugeben. Aber er war nicht Cato.

      Er spürte den Sog der vorbeifahrenden LKWs. Die Brücke vibrierte unter seinen Füßen. Er klammerte sich am Brückengeländer fest. Zitternd kroch er auf die feige Seite des Geländers zurück, wischte sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht und ging heim. „Dein Alter wird Dich schon nicht totschlagen“, meinte sein Kumpel. Nein, den Gefallen tat sein Alter ihm nicht. Aber er selbst hätte es tun sollen, damals. Damals auf der Brücke hätte er es zu Ende bringen sollen. Voller Stolz aus eigener Entscheidung wie Cato.

      Der Alte hat genügend Pfand gesammelt für eine Flasche Wein. Gemeinsam mit dem Tabak und dem Korn verstaut er den Wein in der mitgebrachten Plastiktüte. Er zahlt. Die Kassiererin lächelt ihm zu. Sie kennen sich. Sie arbeitet schon ewig hier. Wahrscheinlich ist sie verheiratet.

      „Du

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