Der Medizinmann. Roland Reitmair

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Der Medizinmann - Roland Reitmair

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Gefangener dabei, ein Häftling aus der Justizanstalt Garsten. Er hatte für irgendwas lebenslänglich ausgefasst, die einen sagten für vorsätzlichen Mord, die anderen behaupteten für einen Amoklauf mit mehreren Toten.

      Zwei Polizisten mit schwerer Bewaffnung bewachten ihn. Allein seine Handschellen reichten aus für ein unangenehmes Gefühl. Da stand ein Verbrecher und durfte mit uns gemeinsam die Lehrabschlussprüfung machen. Aber eigentlich war das noch das Aufregendste an der ganzen Sache…

      4

      Im Ausbildungsbetrieb wollte ich nicht bleiben, weil ich fürchtete, dass sich mein Aufgabengebiet nicht gravierend verändern würde. Also fasste ich kurzerhand den Entschluss dem Beruf überhaupt den Rücken zu kehren. Besser ins Gastgewerbe, ordentlich Geld verdienen.

      So ging ich nach dem Ende der Lehrzeit auf Saison nach Tirol. Dort stellten sich einige Weichen meines Lebens… dort begann das, von dem ich heute glaube, dass es mich Schritt für Schritt in die Versenkung führte.“

      Gabi sammelte sich, schaute nervös zu den anderen Tischen. An die Decke, zum Aschenbecher des Nachbartisches. Dann schaut sie Glanzer noch einmal prüfend an, senkte den Blick. Erzählte mit leicht veränderter Stimme weiter.

      „Der kleine Ort war ruhig, verschlafen. Tourismus war erst im Entstehen. Ich kam in einem Mittelklassehotel unter, als Stubenmädchen. Fallweise bin ich an der Bar im Keller eingesprungen, in der Diskothek.

      Der „Altchef“ war immer hinter allen Servierkräften her, klopfte ihnen in der Küche auf den Hintern und schien einen mit seinen gierigen Blicken auszuziehen. Die Chefin kannte ihren Mann und seine übergreifenden Annäherungen bei der weiblichen Belegschaft. Sie schaute angewidert und hielt sich stets an irgendeinem Whiskyglas fest.

      Aber alles in allem waren die Arbeitsbedingungen gut.

      Die Arbeitszeiten gefielen mir – manchmal konnte ich sogar nachmittags Schifahren gehen oder abends mit den Kollegen nach Innsbruck fahren, das waren nur wenige Kilometer. Ich mochte die wundervollen Gassen und Kneipen, und die freundliche Atmosphäre der Altstadt.

      Eines Abends setzten wir uns nach Dienstschluss noch gemütlich zusammen. Die Chefin war zu ihrer Mutter gefahren, sah dort nach dem Rechten. Daher planten diesmal wir die Diensteinteilung für die folgende Woche. Sonst besprachen wir eigentlich nur belangloses Zeug.

      Franz, der Sohn der Chefleute, unser „Jungchef“, bestand darauf, mit uns noch auf die bisher erfolgreiche Saison anzustoßen.

      Franz holte eine Flasche selbstgebrannten Schnaps hervor. „Des isch da Hausschnops“, lachte er, „nit dea fia di Tourischtn!“ Er schenkte uns allen einen Doppelten ein, dann ging er an die Bar und mixte grauenhafte Likör-Schnaps Gemische. Es war das erste Mal, dass wir so ausgelassen feierten. Ich freute mich, bei den Wirtsleuten gut aufgenommen zu sein und traute mich nicht zu sagen, dass es bereits genug war. Mit Todesverachtung hab ich mir sein Klumpert hinuntergekippt.

      Der Altchef bot mir auch noch eine Zigarre an.“

      Gabis Stimme bebte. Sie wetzte mit dem Fuß am Tischbein. Drehte wieder ihren Weinkelch spielerisch zwischen ihren Fingern, bis dieser in bedenkliche Rotation kam.

      „Plötzlich fühlte ich, wie betrunken ich war. Für manche meiner Sätze brauchte ich mehrere Anläufe und der Weg zur Toilette erforderte meine ganze Konzentration.

      Franz war mir auf der Bank näher gerückt. Er hatte eine Schnapsfahne, aber noch viel übler war sein Mundgeruch.

      „So, Schluss hiazant, mir homma genua getrunckn“, sagte er bestimmt, „i bring di hiaz auf dein Zimmer.“

      Franz hatte vorher schon seine Hand auf meinen Oberarm gelegt: „trinck ma Bruadaschoft!“

      Er beugte sich plötzlich herüber und küsste meinen Mund. Eigentlich hätte ich auf einem Schlag nüchtern sein müssen. Ich nahm meine Tasche, meine Jacke, stand auf, ließ Franz mit seinem Dampf in der Bar zurück und ging nach oben. Endlich schlafen.

      Wie immer versperrte ich meine Zimmertür zweimal. Dann öffnete ich die Balkontüre um zu lüften und putzte mir beim Waschbecken die Zähne.

      Plötzlich sah ich im Spiegel, wie Franz auf meinen Balkon kletterte. Ich bin total erschrocken, versuchte noch die Balkontür zu schließen, aber ich war zu langsam und zu schwach.

      „Spinnst du komplett? Was machst du hier? Das ist mein Zimmer!“ Meine Stimme überschlug sich, aber er in seinem Rausch grinste mich blöd an. Franz trug nur mehr seine Boxershorts. Er streifte sie hinunter und stieß mich aufs Bett. Dann ging alles sehr schnell.

      „Lass mich, ich will das nicht, lass mich – lass mich“, schrie ich ihn an, versuchte mich zu wehren, versuchte ihn wegzustoßen, versuchte zu kratzen und zu treten.

      Mein Zimmer grenzte an das Schlafzimmer seiner Eltern. Verdammt, wo war der Altchef? Hörte mich der nicht? Franz stöhnte und keuchte seinen üblen Mundgeruch, seinen stinkenden Atem in meine Nase. Er hielt mich wie in einem Schraubstock fest und drang in mich, ich hatte keine Chance.

      Als er fertig war, sagte er: „Du wiarst hiaz a wengl bluatn, pass auf, dass du de Matrotzn nit versaust.“

      Er öffnete die Balkontür und schlüpfte hinaus. Nackt, mit seinen Boxershorts in der Hand.

      Ich versucht mich aufzusetzen, taumelte. Mir war so schlecht. Irgendwie schaffte ich es bis zum Waschbecken. Kotzte hinein. Weinte. Röchelte. Versuchte ihn aus mir herauszuwaschen…

      Da bemerkte ich seinen Vater draußen am Balkon. Der musste alles mit angesehen haben. Er stand schon auf meinem Teil des Balkons und schickte sich offenbar an, jetzt in mein Zimmer zu kommen. Zorn, Hass, Trauer …Angst… irgendwas gab mir die Kraft aufzuspringen, die Tür zu schließen und verriegeln und alle Schimpfwörter auszupacken, die ich jemals gelernt hatte.

      Franz, das Schwein.

      5

      Ich fühlte mich schmutzig, besudelt und weinte die halbe Nacht bis ich vor Müdigkeit einschlief.

      Am nächsten Tag ließ ich das blutbefleckte Leintuch verschwinden. Ich konnte nichts denken und nichts fühlen, wollte mich nicht mehr hinlegen und nicht hinsetzen. Die mir zugeteilten Zimmer reinigte ich wie jeden Tag. Dazwischen ging ich drei, vier Mal duschen. Am Abend nahm ich mir eine Flasche Whiskey mit aufs Zimmer. Ich wollte den Schmerz betäuben, wollte das elendige Gefühl loswerden. Diesmal kontrollierte ich dreimal, ob die Balkontür fest verschlossen war.

      Tags darauf kam die Chefin zurück. Ich erzählte ihr nichts. Sie wunderte sich nur, weil ich im Stehen frühstückte.

      Hatte ich ihn irgendwie dazu ermutigt? War ich zu naiv?

      Nein… ich hab einfach nicht durchschaut, dass er aus demselben Holz geschnitzt war, wie sein Vater.

      Auf die Idee zur Polizei zu gehen, kam ich erst gar nicht. Heute weiß ich, das war klug so. Wer hätte einem 19-jährigen Mädchen mit Restalkohol, ohne grobe äußerliche Verletzungen schon geglaubt? Außerdem wollte ich nicht ohne Arbeit dastehen. Ich tat, als wäre alles ganz normal, versuchte zu verdrängen.

      Das war meine erste sexuelle Erfahrung.“

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