Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan)
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan) страница 4
16. Juli 1922
Morgen dampfen wir ab. Unsere Nachbarin (rechts von uns), Frau Klein und Rudel, ihr Sohn von 13 Jahren und Emmy Harthaus (Nachbarin links) fahren mit mir, auch unser kleiner Berni. Auf Fritz' Fürsprache können die Jungens in den Ferien bei Bauern untergebracht werden. Ich freue mich, denn ich sehne mich nach Kuhstallduft, Hühnergeschrei und Torfgeruch. O ich kenne alles genau und bin gern, sehr gern auf dem Lande. Morgen früh 6 Uhr beginnt unsere Reise. Ich lasse mein Buch zu Hause, auf dem Lande ist Zeit zum Schreiben selten übrig, und die Bauern würden lachen. Es leben auf dem Hofe der Besitzer, Herr Ringmann, zwei Söhne, Heinz und Hans, zwei Töchter, Sabine und Anna; die Frau ist tot. Fritz dient als Zeitvertreib im Hause. Söhne und Töchter haben ihn gern, treiben manchen Scherz mit ihm und belehren ihn in allem. Er treibt die Kühe zur Weide und hütet mit dem alten Bauer die Schafe. Es sind 300 Heidschnucken. Sabine schrieb einmal, Fritz liebe das Schafe hüten. Er wolle später einmal Schäfer werden. Er liege lang im Grase und blicke mit seinen großen Traumaugen in den schönen blauen Himmel, das sei seine Lieblingsarbeit. Die Rehe aus dem nahegelegenen Walde sind seine Freunde. Hans hat eine Futterstelle errichtet, damit Fritz seiner Liebhaberei nachgehen kann. Sabine aber hat Fritz das Stricken gelehrt, weil jeder Schäfer das tut. Träumen ist nicht immer gut und taugt nicht immer fürs Leben, schrieb sie. Fritz habe große Lust zum Stricken und kann nun schon einen fehlerfreien Strumpf stricken aus Heidschnuckenwolle.
So leb' nun wohl, liebes Buch, in 5 Wochen sehen wir uns wieder.
21. November 1922
Ich habe Dir viel mitzuteilen, denn ich war länger fort, als ich dachte. Ich weile zum Besuch, und ich habe Fritz, Rudel, Emy und Berni mitgebracht. Mein langer Körper gebrauchte gute Nahrung, und darum hatte Mutti versucht, mich von der Haushaltungsschule frei zu machen. Und es gelang. Nun hatte ich aber große Sehnsucht nach Hause. Wir kamen ganz unverhofft, und Papa und Mama waren voller Freude, und das Haus war voll. Wir brachten so viel Lebensmittel mit, Mutti war ganz gerührt. Als alles ausgepackt war, Wurst, Speck, Schinken, Butter, Mehl, Obst und sämtliche Kleidungsstücke, da war alles belegt und kein Plätzchen mehr zum Sitzen da. Klein Lotti hat sich glänzend herausgemacht, ist zu drollig. Mama und Papa behaupten, wir seien alle dicker geworden, und ich sei sehr gewachsen. Am 28. Juli starb Herr Ringmann am Herzschlag. Er war so gesund, so blühend und rüstig und starb so plötzlich. Am selben Tage traf auch mich ein Unglück. Wir waren beim Heuen. Ich stand zwischen zwei Wagen und war im Begriff, auf den Wagen zu steigen. Plötzlich schlug ein Pferd aus und traf mich an den Leib. Vor Schmerzen fiel ich bewusstlos zusammen. Man brachte mich auf einer Bahre ins Haus, zur selben Zeit, als Sabine ihren toten Vater mit Hilfe einiger Nachbarn in seine Kammer trug und ihn bettete. Ich war 14 Tage sehr krank, und der Arzt kam jeden Tag, dann erholte ich mich langsam. Meinen Eltern schrieb man nichts von dem Unglück, denn ich wollte es nicht, weil sie wohl in größter Sorge gewesen wären. Ich sage es ihnen auch jetzt noch nicht, und Fritz muss auch schweigen. Sie würden mich auf keinen Fall wieder nach Steinbach lassen. Nur Dir vertraue ich es an, liebes Buch.
10. Dezember 1922
So gerne ich noch bis Weihnachten im Elternhause geblieben wäre, ich muss nun wieder fort. Ich gehe gern und doch so schwer. Meinem Körper zum Nutzen und deshalb meinen Eltern zur Freude, gehe ich gern. Meine Tante Grete hat sich verheiratet und wohnt in Rahndorf. Sie hat ihrem Jugendfreund Heinz Müller die Hand zum Ehebund geboten, und beide haben sich sehr lieb. Onkel Heinz hat in Rahndorf ein Partiewarengeschäft und auch Verkauf von Herren- und Damengarderobe. Ich war mit Papa zum Besuch, und Papa kaufte mir einen neuen Mantel, grau mit roten Karo, sehr kleidsam und warm. Ich habe mich riesig gefreut, des Mantels wegen, und weil ich einen so lieben Papa habe. Mutti hat mir ein Kleid angefertigt, und so ausstaffiert kann ich wieder reisen. Wenn sie wüssten, wie unendlich gern ich bei ihnen bliebe; denn ich habe alle so sehr lieb. Und noch eins. Der älteste Sohn und jetzige Besitzer des Hofes ist oft so eigenartig zu mir, ich fürchte mich vor ihm. Er sieht mich oft so komisch an, und ich bin deshalb oft verlegen und flüchte, sobald ich ihn in meiner Nähe weiß. Er hat schon versucht, mich zu umfassen, aber ich wehrte ihm, weil er mich stets verfolgt und zwischen knirschenden Zähnen flüsterte: „Einmal fasse ich Dich doch, Du Racker.“ Ich kann niemand mein Leid klagen, ich bitte nur immer um Hilfe bei meinem Schutzengel, das gibt mir Mut. Bina, Anna und Hans meinen es sehr gut mit mir, ihretwegen fahre ich mit Freude hin, und Fritz ist ja auch bei mir. Hans ist wie ein Bruder zu mir und ganz anders als Heinz. In der ersten Zeit meines Besuchs in Steinbach war ich wild wie ein Junge, und Hans war stets mein Kamerad. Sobald er mich einmal erwischte, war es beim Heuen, beim Moorstechen, wo wir auf irgend eine tolle Idee kamen, zum Beispiel im Scherz beim Rangeln, dann hob er mich auf seinen starken Arm, blickte mich so lieb an und setzte mich dann behutsam nieder. In der Zeit meines Krankseins war er besorgt wie eine Mutter oder ein großer Bruder. Es war einmal beim Moorstechen. Ich geriet ins Moorwasser und rief in höchster Not: „Hans, Hans!“ Da lief er schnell herbei, hob mich auf seinen Arm und watete mit mir zurück. Dann setzte er mich hin und sagte: „Um ein Haar, und wir hätten kein Gretchen mehr gehabt.“ „Hans, wie soll ich Dir das jemals danken, Du bist so gut“, sagte ich. Er strich behutsam über meine vor Schreck kalten Hände und sagte: „Ich freue mich so, dass dir nichts passiert ist, Gretchen, und habe einmal ein liebes, kleines Mädchen auf dem Arm gehabt; und nun lache mal, und guck mich mal an, jetzt ist der Schreck ja vorbei.“ Wir lachten beide. Hans ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist klug, und ich habe viel gelernt von ihm. Er hätte studieren müssen. Die 2 Brüder sind grundverschieden. Ebenso beide Schwestern. Bina ist eine geborene Bäuerin; Anna dagegen hat Hang zum Besseren. Sie war im Kloster in Pension und möchte gern in die Stadt. So wird das Weihnachtsfest kommen, und ich bin fern vom Elternhause. Nur ein Wort, ein einziges Wort von mir, und man ließe mich nicht fort. Aber nein, sie erwarten mich dort, und zu jeder Zeit kann ich ja ins Elternhaus zurück. Und Weihnachten will Papa kommen. Er will ein Schaf kaufen und dasselbe geschlachtet mitnehmen. Wenn Papa kommt, bringt er Weihnachtskuchen mit, von Mutti gebacken. Darauf freue ich mich jetzt schon und Fritz auch. Diesmal will ich mein Buch mitnehmen, denn die Winterabende sind lang, es gibt oftmals ein einsames Stündchen, das ich dann benutzen will zum Plaudern. Dann fühle ich mich der Heimat und den Eltern nahe.
Am 1. Weihnachtstage 1922
Sie sind alle zur Kirche. Ich bin allein und voller Sehnsucht, darum leiste mir Gesellschaft, liebes Buch. Als ich gestern Abend zu Fritz ging, mich zog ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu ihm, am Heiligen Abend, da lag Fritz im Bett und weinte. „Fritz“, sagte ich. Doch weiter kam ich nicht vor Schluchzen. „Gretchen, woran denkst Du jetzt?“ fragte er leise. „Ach Fritz“, sagte ich, „jetzt sitzen sie zusammen beim brennenden Weihnachtsbaum. Mutti hat schönen Bohnenkaffee gekocht, und sie essen Kuchen dazu. Papa sitzt rechts in der Sofaecke, wie immer. Fritz, ich sehe alles so deutlich. Berni und Annchen haben irgendeinen Wunsch erfüllt bekommen. Wir haben immer noch kleine Wünsche gehabt, weil große nie erfüllt werden konnten, denn das Geld ist knapp. Aber stets waren wir zufrieden und dankbar. Nun schmiegen sie sich an Papa, der wohl eine gute Zigarre zur Feier des Tages raucht. Und jetzt denke ich an Lotti, ich sehe sie, Fritz, sie zappelt nach den Lichtern und jauchzt, und Mutti herzt und drückt das liebe Kleine. Wir sind heute arm, Fritz, denn wir sind fern von denen, die wir so innig lieb haben. Aber Fritz, ich fühle das, Mutti denkt in Sehnsucht an uns und weint wohl, wenn sie ganz allein ist. Gestern früh fragte ich Anna heimlich: ‚Wer schmückt denn den Weihnachtsbaum?‘“
„Den Weihnachtsbaum?“ fragte Anna ganz verwundert.
„Macht ihr denn gar keinen geputzten Tannenbaum?“
„Nein, das gibt's hier gar nicht, höchstens da, wo ganz kleine Kinder sind, aber die verstehen ja auch nicht viel davon. Bei Binas Freundin ist, glaube ich, dieses Jahr wohl ein Baum und wohl der einzige im Dorf, denn sie hat 3 kleine Kinder und ist aus einer Gegend, wo ein geputzter Baum Sitte ist.“