Kindheit. Лев Толстой
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»Ooo schade! ooo, tut weh! – Die Lieben werden davonfliegen!« sprach er sodann mit von Tränen zitternder Stimme, indem er Wolodja voller Herzeleid anblickte, und mit dem Ärmel die tatsächlich fallenden Tränen trocknete.
Seine Stimme war rau und heiser, seine Bewegungen waren hastig und unregelmäßig, seine Worte sinnlos und ohne Zusammenhang (er gebrauchte niemals ein Fürwort), aber die Betonung war so rührend, und das gelbe, mißgestaltete Gesicht nahm zuweilen einen so aufrichtig betrübten Ausdruck an, daß man sich beim Zuhören eines gewissen, aus Mitleid, Angst und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühles nicht erwehren konnte.
Das war der unstet umherirrende Grischa.
Woher stammte er? wer waren seine Eltern? was hatte ihn veranlaßt, das Wanderleben, das er führte, zu erwählen? – Das wußte niemand. Ich weiß nur, daß er von seinem fünfzehnten Lebensjahre an als Narr bekannt war, der Sommer und Winter barfuß ging, die Klöster besuchte und Leuten, die er lieb gewann, kleine Heiligenbilder schenkte; daß er rätselhafte Worte sprach, welche von manchen als Weissagungen aufgefaßt wurden; daß ihn niemand je anders gekannt hatte, als er jetzt war; daß er zuweilen zu meiner Großmutter kam und daß die einen von ihm sagten, er sei der unglückliche Sohn reicher Eltern und eine unschuldsvolle Seele, und andere, er sei nichts als ein Bauer und Faulenzer.
Endlich erschien der langersehnte und pünktliche Foka, und wir gingen hinunter. Grischa folgte uns schluchzend, ohne mit seinen unsinnigen Reden aufzuhören, und stieß mit dem Stab auf die Stufen der Treppe. – Papa und Maman schritten Arm in Arm im Salon auf und nieder und sprachen miteinander. Maria Iwanowna saß würdevoll in einem Lehnstuhl, der symmetrisch in rechtem Winkel an den Diwan gerückt war, und gab den neben ihr sitzenden Mädchen mit strenger, aber gedämpfter Stimme gute Lehren. Als Karl Iwanowitsch ins Zimmer trat, blickte sie sich nach ihm um, wandte sich aber sofort wieder ab, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, den man ungefähr deuten konnte: »Ich bemerke Sie nicht, Karl Iwanowitsch!« Den Mädchen sah man's an den Augen an, daß sie sich danach sehnten, uns irgend eine sehr wichtige Mitteilung zu machen; aber vom Platze aufspringen und uns entgegengehen wäre eine Übertretung von Mimis Regeln gewesen. Zuerst mußten wir zu ihr gehen, mußten sagen: »Bonjour, Mimi« und einen Kratzfuß machen, dann erst durfte man ein Gespräch anfangen.
Was war diese Mimi doch für eine unerträgliche Person! In ihrer Gegenwart durfte man zuweilen gar nichts sprechen: sie fand alles unpassend. Überdies quälte sie uns mit ihrem unaufhörlichen: »Parlez donc français!« während wir, wie zum Trotz, gerade gern russisch geplaudert hätten; oder man wollte sich beim Mittagessen eine Speise eben so recht schmecken lassen und wünschte, von niemand gestört zu werden, da ertönt unbedingt ihr: »Mangez donc avec du pain!« oder: »Comment-c'est que vous tenez votre fourchette?« – »Was hat sie sich überhaupt um uns zu kümmern?« denkt man, »mag sie doch ihre Mädels schulmeistern, wir haben dazu doch Karl Iwanowitsch!« Ich teilte dessen Haß gegen »gewisse Leute« vollständig.
»Bitt' doch Mama, daß man uns auf die Jagd mitnehme!« flüsterte Katjenka mir zu, indem sie mich beim Rock festhielt, als die Erwachsenen ins Zimmer vorangingen.
»Gut, ich werde mir Mühe geben.«
Grischa verzehrte sein Mittagbrot im Speisezimmer, aber an einem besonderen Tischchen; er blickte von seinem Teller nicht auf, seufzte von Zeit zu Zeit, schnitt entsetzliche Grimassen und sprach wie zu sich selbst: »Schade! – fortgeflogen – die Taube wird zum Himmel fliegen – ach, auf dem Grabe liegt der Stein!« usw.
Maman war seit dem Morgen aufgeregt; die Gegenwart, die Worte und das Gebaren des Idioten verstärkten ihre Erregung merklich.
»Ach ja, fast hätte ich vergessen, dich um etwas zu bitten«, sagte sie, indem sie meinem Vater den Teller mit Suppe reichte.
»Was denn?«
»Bitte, laß deine schrecklichen Hunde einsperren; sie haben beinahe den armen Grischa zerrissen, als er über den Hof ging. Sie können ebensogut die Kinder anfallen.«
Als Grischa hörte, daß man von ihm sprach, kehrte er sich dem Esstisch zu, zeigte die zerrissenen Schöße seines Gewandes und sprach dabei kauend:
»Wollte, daß totbeißen – Gott ließ nicht zu! Sünde, mit Hunden hetzen, große Sünde! Schlag' nicht, Großer, – warum schlagen? Gott wird verzeihen – die Zeiten sind nicht so –«
»Was redet er da?« fragte Papa, ihn aufmerksam und streng betrachtend; »ich verstehe nichts.«
»Aber ich verstehe ihn.« erwiderte Maman, »er hat mir erzählt, daß irgend ein Jäger absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen hat, deshalb sagte er: wollte, daß totbeißen, aber Gott ließ nicht zu, – und er bittet dich, du mögest den Jäger dafür nicht bestrafen.«
»Ach so!« sagte Papa; »woher weiß er denn, daß ich diesen Jäger bestrafen will? – Du weißt, ich bin im allgemeinen kein großer Freund dieser Herren«, fuhr er in französischer Sprache fort, »und dieser mißfällt mir ganz besonders und muß –«
»Ach, sag' das nicht, mein Freund!« unterbrach ihn Maman fast erschrocken, »wie kannst du wissen?«
»Ich denke, ich habe Gelegenheit genug gehabt, diese Gattung Menschen kennen zu lernen, – es kommen ihrer so viele zu dir, – alle nach demselben Schnitt! Ewig die gleiche Geschichte –«
Man merkte, daß Mütterchen in dieser Angelegenheit völlig anderer Meinung war und nicht darüber streiten wollte.
»Reich mir, bitte, ein Pastetchen«, sagte sie, »sind sie heute gut, wie?«
»Nein, mich ärgert es«, fuhr Papa fort, indem er ein Pastetchen ergriff, aber so weit weghielt, daß Maman es nicht erreichen konnte; »mich ärgert es, wenn ich sehe, daß kluge und gebildete Leute sich betrügen lassen.« Und er schlug mit der Gabel auf den Tisch.
»Ich bat dich, mir ein Pastetchen zu reichen«, wiederholte Maman, die Hand ausstreckend.
»Und man tut gut daran, daß man solche Leute polizeilich einsperrt«, sprach Papa weiter, indem er seine Hand zurückzog: »sie tun nichts, als daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Leute noch mehr aufregen«, schloß er mit einem Lächeln, als er merkte, daß dieses Gespräch Maman durchaus nicht gefiel, und reichte ihr das Pastetchen.
»Ich will dir darauf nur eines sagen«, erwiderte Maman, »es ist schwer zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre Winter und Sommer barfuß geht und unter seinem Gewande, ohne sie je abzulegen, Ketten im Gewicht von zwei Pud trägt, der wiederholt das Anerbieten ausschlug, ruhig und mit allem versorgt zu leben, – es ist schwer zu glauben, daß ein solcher Mensch das alles nur aus Trägheit tut. Was die Weissagungen betrifft –« fügte sie mit einem Seufzer hinzu und schwieg ein Weilchen, »je suis payée pour y croire; ich hab' dir ja erzählt, glaube ich, wie Kirjuscha meinem seligen Papa Tag und Stunde seines Todes ganz genau vorhergesagt hat.«
»Ach, was hast du mir angetan!« sagte Papa lächelnd und die Hand an der Seite, wo Mimi saß, vor seinen Mund haltend. (Wenn er das tat, horchte ich stets mit gespannter Aufmerksamkeit, weil ich etwas Komisches erwartete.) »Warum hast du mich an seine bloßen Füße erinnert? Ich hab' hingeschaut und kann nun nichts mehr essen!«
Das Mittagsmahl näherte sich dem Ende. Ljubotschka und Katjenka machten uns unaufhörlich Zeichen,