Auferstehung. Лев Толстой
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Nechljudow war den Frauen gegenüber sehr schüchtern, doch eben diese seine Schüchternheit hatte in jener verheirateten Frau den Wunsch erweckt, ihn zu erobern. Diese Frau war die Gemahlin des Adelsmarschalls jenes Kreises, in dem seine Hauptbesitzungen lagen. Er war gerade zur Wahl des Adelsmarschalls anwesend, als die Annäherung geschah. Diese Frau hatte ihn in ein Verhältnis hineingezogen, das für Nechljudow mit jedem Tage fesselnder und zu gleicher Zeit abstoßender wurde. Anfangs hatte Nechljudow der Verführung nicht widerstehen können, und dann hatte er, da er sich ihr gegenüber schuldig fühlte, das Verhältnis nicht ohne ihre Einwilligung abzubrechen gewagt. Das war denn auch die Ursache, weshalb er kein Recht zu haben glaubte, der Kortschagina seine Hand anzutragen, selbst wenn er die Neigung dazu verspürt hätte.
Auf dem Tische lag zufällig ein Brief von dem Gatten dieser Frau. Als Nechljudow die Handschrift und den Poststempel sah, errötete er und fühlte sogleich jenen Aufschwung von Energie, den er jedesmal beim Herannahen einer Gefahr in sich verspürte. Aber seine Aufregung war überflüssig: der Gatte seiner Geliebten benachrichtigte ihn, daß für Ende Mai eine außerordentliche Versammlung der Landstände anberaumt sei, und bat Nechljudow, unbedingt zu erscheinen und bei den bevorstehenden wichtigen Debatten über die Schulen und Landstraßen seinen Einfluß mit in die Waagschale zu legen, da von Seiten der reaktionären Partei eine heftige Opposition zu erwarten sei.
Der Adelsmarschall war ein liberaler Mann, der ganz von diesem Kampfe in Anspruch genommen wurde und von seiner häuslichen Schmach nichts wußte.
Nechljudow vergegenwärtigte sich all die qualvollen Minuten, die er in Hinsicht auf diesen Mann schon durchlebt hatte: er erinnerte sich, wie er einmal bestimmt geglaubt hatte, der Mann wisse alles, und wie er sich zum Zweikampf mit ihm vorbereitet hatte, bei dem er in die Luft schießen wollte; auch jener furchtbaren Szene mit ihr erinnerte er sich, als sie voll Verzweiflung in den Garten hinausgerannt war, um sich zu ertränken, und er ihr nachlief, um sie zu suchen.
»Ich kann jetzt nicht hinfahren und kann nichts unternehmen, solange sie mir nicht geantwortet hat,« dachte Nechljudow. Vor einer Woche hatte er ihr einen entscheidenden Brief geschrieben, in dem er sich schuldig bekannte und zu jeder Art von Genugtuung bereit erklärte, zugleich jedoch sagte, daß es in ihrem eigenen Interesse liege, das Verhältnis endgültig abzubrechen. Auf eben diesen Brief nun erwartete er ihre Antwort, die noch immer nicht eintraf. Die Verzögerung der Antwort konnte allerdings als ein günstiges Vorzeichen gelten. Wenn sie von der Auflösung des Verhältnisses nichts wissen wollte, hätte sie längst geschrieben oder wäre selbst gekommen, wie sie es früher getan hatte. Nechljudow hatte erfahren, daß dort irgendein Offizier auf der Bildfläche erschienen war, der ihr den Hof machte, und wenn ihn auch die Eifersucht plagte, so erfüllte ihn doch andrerseits die Aussicht, endlich von der drückenden Last dieser Lage befreit zu werden, mit freudiger Hoffnung.
Der zweite Brief war von seinem Gutsverwalter. Dieser schrieb, daß er, Nechljudow, unbedingt selbst kommen müsse, um sein Erbe anzutreten und außerdem auch die Frage zu entscheiden, welche Art der Bewirtschaftung fortan befolgt werden solle: ob die Wirtschaft so weitergeführt werden solle wie zu Zeiten der Verstorbenen, oder ob, wie er bereits der seligen Fürstin vorgeschlagen habe und jetzt dem jungen Fürsten vorschlage, das Inventar vermehrt und das bisher an die Bauern verpachtete Land in Selbstbewirtschaftung genommen werden solle. Der Verwalter schrieb, daß eine solche Ausnutzung des Grund und Bodens sich weit vorteilhafter gestalten würde. Er entschuldigte sich bei dieser Gelegenheit, daß er sich mit der Absendung der zum Monatsersten fälligen dreitausend Rubel ein wenig verspäten würde, das Geld werde jedoch mit der nächsten Post abgehen. Die Ursache der Verspätung sei, daß er das Geld so schwer von den Bauern einbekomme, die ihre Gewissenlosigkeit so weit trieben, daß zur Beitreibung des Pachtzinses unbedingt die gesetzlichen Gewalten angerufen werden müßten. Dieser Brief löste bei Nechljudow sowohl angenehme als auch unangenehme Empfindungen aus. Angenehm war ihm das Bewusstsein, sich als Herrn eines so großen Vermögens zu wissen, unangenehm dagegen waren gewisse peinliche Zweifel, die der Brief in ihm erregte. Er war nämlich in seiner frühen Jugend ein begeisterter Anhänger von Herbert Spencer gewesen, namentlich hatte auf ihn, der selbst Großgrundbesitzer war, der Satz in den »Social statics«, daß das Privateigentum am Grund und Boden mit den Prinzipien der Gerechtigkeit unvereinbar sei, einen tiefen Eindruck gemacht. Mit der Aufrichtigkeit und raschen Entschlossenheit der Jugend hatte er damals nicht nur diesen Satz zu seinem eigenen Bekenntnis gemacht und als Universitätsstudent eine Abhandlung über dieses Thema geschrieben, sondern auch tatsächlich um jene Zeit ein kleines Grundstück, das nicht zum mütterlichen Besitz gehörte, sondern durch Erbschaft vom Vater auf ihn gekommen war, unter die Bauern verteilt, da er nicht seiner Überzeugung entgegen Herr über ein Stück Boden sein wollte. Jetzt, nachdem er durch die mütterliche Erbschaft ein großer Grundbesitzer geworden, blieben ihm nur zwei Möglichkeiten übrig: entweder mußte er auf sein Erbe verzichten, wie er es damals, vor zehn Jahren, mit den zweihundert Dessjatinen1 väterlichen Grundbesitzes gemacht hatte, oder er mußte alle seine früheren Ideen als verkehrt anerkennen.
Das erstere konnte er nicht tun, da er außer dem Landbesitz keine Existenzmittel besaß und in den Staatsdienst nicht eintreten wollte. Er hatte bereits all die Gewohnheiten eines luxuriösen Lebens angenommen, die er nun nicht mehr glaubte entbehren zu können. Es hätte auch gar keinen Sinn gehabt, jetzt auf sein Erbe zu verzichten, besaß er doch nicht mehr jene Kraft der Überzeugung, jene rasche Entschlossenheit, jenen Ehrgeiz, die Welt in Erstaunen zu setzen, die ihm in seiner Jugend eigen gewesen. Die zweite Möglichkeit aber, daß er sich lossagte von jener Auffassung, auf Grund deren er, in Anlehnung an Spencers »Social statics«, das Privateigentum am Grund und Boden für ungerecht erklärt hatte – einer Auffassung, die er späterhin auch in den Schriften von Henry George bekräftigt gefunden hatte – diese zweite Möglichkeit, die ihn zum Verräter an seinen Jugendidealen gemacht hätte, kam für ihn überhaupt nicht in Betracht.
Aus diesem Grunde war ihm der Brief des Gutsverwalters, der ihm dieses Dilemma zum Bewusstsein brachte, unangenehm und peinlich.
1 1 Dessjatine misst etwas mehr als 1 Hektar.
4
Nachdem Nechljudow den Kaffee getrunken hatte, begab er sich in sein Kabinett, um in der ihm zugegangenen Vorladung nachzusehen, wann er auf dem Gericht zu erscheinen habe, und den Brief der jungen Fürstin zu beantworten. Der Weg nach dem Kabinett führte ihn durch sein Atelier. Im Atelier stand eine Staffelei mit einem angefangenen Bilde, das umgedreht war; an den Wänden hingen verschiedene Skizzen. Der Anblick dieses Bildes, mit dem er sich seit zwei Jahren herumquälte, und der Skizzen an der Wand, wie überhaupt des ganzen Ateliers, brachte ihm das Gefühl seines künstlerischen Unvermögens, das er in letzter Zeit besonders deutlich empfunden hatte, klar zum Bewusstsein. Er erklärte sich dieses Gefühl durch sein allzu fein entwickeltes ästhetisches Empfinden, trotz dieser Erklärung aber blieb doch das Unangenehme und Peinliche jenes Bewusstseins.
Vor sieben Jahren hatte er den Dienst quittiert, da er einen Beruf zur Malerei in sich zu verspüren glaubte, und von der Höhe seiner künstlerischen Tätigkeit hatte er verächtlich auf alle andern Betätigungsarten herabgesehen. Jetzt hatte sich herausgestellt, daß er dazu gar kein Recht hatte, und darum war ihm jede Erinnerung an seine künstlerischen Versuche unangenehm. Mit einem beklemmenden Gefühl blickte er auf all die luxuriösen Vorrichtungen des Ateliers und betrat in unfroher Stimmung sein Kabinett. Dieses war ein sehr großes, hohes Zimmer mit allen möglichen Kunstgegenständen, Apparaten und Bequemlichkeiten.
Er fand sogleich in der Schublade des gewaltigen Schreibtisches unter der Aufschrift »Termine« das Vorladungsschreiben, aus dem er ersah, daß er um elf Uhr im Gericht zu erscheinen hatte. Dann setzte