Das Lexikon der uncoolen Dinge. Harry Luck
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Eierlikör ist ein Anti-Krisen-Getränk, denn es wird vorwiegend zu Hause konsumiert, auch in Zeiten, in denen man sich den Kneipenbesuch nicht mehr leistet. Er ist kein Stoff für Wirkungstrinker, sondern ein Genussmittel, eine Praline ohne Schokohülle, die langsam auf der Zunge zergeht. Als Oldie-Gesöff verspottet, ist Eierlikör heute ein Getränk für alle Generationen: Senioren verfeinern damit ihr Walnuss-Eis, die Best-Ager backen Eierlikör-Kuchen, und die Jugend mixt Cocktails und Drinks: Mischen is possible! Verpoorten selbst sieht sich im Supermarktregal als Wettbewerber mit Ramazotti, Campari und Baileys. Eierlikör ist Feierlikör.
Während einst Heinz Erhardt nach dem Vorbild Verpoortens in dem Film Immer diese Radfahrer einen Eierlikörfabrikanten verkörperte und Peter Kraus und Georg Thomalla zu Werbe-Ikonen für das gelbe Imperium wurden, ist spätestens seit Guildo „hat euch lieb“ Horn Eierlikör als dickflüssiges Pendant zu Nussecken in der revitalisierten Schlagerszene zum In-Getränk kultiviert.
René Carol hat dieses Comeback von Ei, Ei, Eierlikör leider nicht mehr erlebt. Er starb 1978 im Sauerland. Wenige Jahre zuvor begründete er in einem Interview, warum er nicht dem Alkohol verfallen sei: „Ich möchte nicht wie ein aufgedunsenes Fass auf der Bühne stehen.“ Allein sein größter Hit „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“ wurde über zwei Millionen Mal verkauft, er verdiente über achthunderttausend Mark damit. Was aus dem Geld geworden ist? „Es steckt in meinem Häuschen und in Schnaps“, sagte er. Hätte er mal besser in Eierlikör investiert.Kurzarmhemd
Heute ist alles erlaubt. Von Flipflops über Leggings bis zum volltätowierten Oberkörper. Doch das letzte Tabu im zivilisierten Abendland ist das Kurzarmhemd. Wenn es für den Spießer eine Uniform gäbe, sie hätte ein Hemd mit kurzen Ärmeln. „Kurze Ärmel sind für Spießer“, warnt daher auch der renommierte Etikette-Spezialist Uwe Fenner und behauptet, ein Gentleman wisse gar nicht, dass Kurzarmhemden existieren. Die Etikette-Trainer Imme Vogelsang stellt sogar fest: „Kurzarm-Träger – das ist so wie Warmduscher.“ (Zum Thema Warmduschen später mehr!) Doch eine schlüssige Erklärung bleiben die selbst ernannten Mode-Experten schuldig, wenn sie das Kurzarmhemd allenfalls bei Staubsaugervertretern, Schutzpolizisten oder Piloten südamerikanischer Airlines erlauben, allen anderen aber ein schickes Marken-Oberhemd ans Herz legen. Und warum bitte soll ein Polohemd erlaubt und ein Kurzarmhemd verboten sein – zumal Letzteres einen unschlagbaren Vorteil gegenüber den meisten anderen Kleidungsstücken hat? Kugelschreiber, Zigaretten, Sonnenbrille, Handy – all das passt bequem in die Brusttasche des – kurzärmeligen – Oberhemds. Männer brauchen keine Handtasche, weil sie ein Oberhemd tragen.
Die Etikette-Trainerin Nandine Meyden urteilt hart: Kurzärmelige Hemden sähen „immer nach Internat und kleinen Jungen aus. Das passt nicht zu erwachsenen Männern“. Sie empfiehlt als Alternative, die langen Ärmel einfach hochzukrempeln, so wie Jürgen Klinsmann bei der WM 2006. – Jogi Löw hat es ihm nachgemacht. – Das sähe „wenigstens cool“ aus. Welch ein Unsinn! Polohemd und Krempelarm zeigen dieselbe nackte Haut des Unterarms wie ein schönes Kurzarmhemd – es muss ja nicht gleich kariert sein –, die erotisierende Wirkung dürfte also die gleiche bleiben. Darum, liebe Modepäpste: Warum soll bei Busfahrern erlaubt sein, was beim Ottonormalspießer uncool ist? Gebt das Hemd frei – mit kultigem Kurzarm.
Die Münchner Imageberaterin Sabine Schwind von Egelstein sagt: „Das Kurzarmhemd wird dann salonfähig, wenn jemand das Kurzarm-Sakko erfunden hat.“ Ich sage: eine geniale Idee!Regenschirm
In meiner Geburtsstadt im Bergischen Land gibt es das geflügelte Wort: „Wer in Remscheid auf sich hält, kommt mit dem Regenschirm zur Welt.“ Diese bergische Volksweisheit wird wissenschaftlich untermauert durch eine Erhebung des meteorologischen Fachmagazins Men’s Health. Demnach fallen in meiner Heimat jährlich rund tausend Liter Regen pro Quadratmeter, das bergische Regendreieck Wuppertal, Remscheid, Solingen, wo man eher verrostet als einen Sonnenbrand bekommt, liegt damit an der bundesweiten Spitze. Als ich meine Heimat aus Sehnsucht nach der weiten, sonnigen Welt verließ und nach München zog, wohnte ich in der Stadt auf dem vierten Rang der Regenliste (973 Liter). Und als ich mit meiner ersten Fernreise zum ersten Mal den europäischen Kontinent verließ, landete ich zum Ende der Regenzeit in Thailand, wo bis zu dreitausend Liter Niederschlag im Jahr gezählt werden. Kurzum: Die ersten Jahrzehnte meines Lebens war es für mich unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die es spießig finden, immer einen Regenschirm dabei zu haben. Und Wetter-Apps gab es noch nicht.
Dabei ist ein tragbares Schutzdach neben der Stehlampe und dem Vakuum-Sauger für Bartstoppel am Rasierapparat eine der genialsten Erfindungen der Menschheit, die bereits im Jahr 802 ihre erste urkundliche Erwähnung findet, als Abt Alcuin von Tours dem Salzburger Bischof Arno ein „Schutzdach“ sandte, „damit es von deinem verehrungswürdigen Haupte den Regen abhalte“.
Ein verehrungswürdiger Haupt ist auch der gelernte Bergassessor Hans Haupt, der aufgrund einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg nicht in der Lage war, Regenschirm und Spazierstock gleichzeitig zu tragen. Er griff auf nicht ganz ausgereifte Erfindungen aus dem 17. Jahrhundert zurück und entwickelte 1928 den ersten teleskopierbaren Regenschirm, der im zusammengefalteten Zustand in jede Tasche passte. Bei der Patentierung im Jahr 1930 gab er ihm einen Markennamen mit fünf Konsonanten und einem Vokal: Der „Knirps“ war geboren.
Längst gibt es Schirme mit integrierter Taschenlampe, Bleistift, Pillendose, Kompass oder Trinkglas. Ängstliche Zeitgenossen, die häufiger die Berliner U-Bahn als Transportmittel benutzen, haben im Griff ihres scheinbar harmlosen Schirms einen Dolch verborgen. Und von James Bond und Nick Knatterton kennt man die Sonderanfertigungen, die sich auf Knopfdruck in ein Maschinengewehr oder einen Fallschirm verwandeln.
Aber es wäre nicht angemessen, den Schirm nur als Waffe und Regenschutz zu betrachten. Das englische Wort „umbrella“, das vom lateinischen „umbra“ – Schatten – kommt, deutet darauf hin, dass er ursprünglich mal als Schattenspender gedacht war. Der Schirm ist auch ein Kulturgut, wie die häufige Verwendung als Requisite beim Deutschen Fernsehballett, im Musical (Singin‘ in the Rain) oder der modernen Musik beweist: Es ist wohl eine der erotischsten Liebeserklärungen der Pop-Geschichte, wenn sich Rihanna in nicht ganz wetterfester Kleidung mit Netzstrümpfen und Lackleibchen lasziv um einen schwarzen Stockschirm rekelt und singt: „Now that’s raining more than ever / Know that we’ll still have each other / You can stand under my umbrella.“
Wer heute beschirmt seine Liebe beweisen will und aus individuellen Gründen nicht im Rihanna-Outfit auf die Straße geht, hat andere Möglichkeiten. Die Firma Knirps hat ein Modell namens „Feeling“ auf den Markt gebracht, auf dessen Schirmdach viele kleine Kristalle „in Liebes-Rot und Glücks-Grau“ ein Herz mit einem Schwert darstellen. Auf die Idee, dass Grau die Farbe des Glücks sein soll, kann wohl nur ein Schirmhersteller kommen.
Was sich einfallsreiche Schirmdesigner ausgedacht haben, kann übrigens im einzigen Schirmmuseum der Welt, dem „Muso dell’Ombrello“ in Gignese am Lago Maggiore angeschaut werden.
Dass Menschen, die bei jeder Witterung einen Schirm bei sich tragen, ausgewiesene Pessimisten sein sollen, ist eine Unterstellung, die leicht zu widerlegen ist. Der Schirmträger ist eher ein Realist, der durchaus die Sonnenstrahlen genießen kann, dabei aber nicht vergisst, dass auf Sonnenschein immer Regen folgt – und umgekehrt. Die Stadt mit den meisten Regentagen