Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer

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Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band - Hugo Friedländer

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ist Klein-Flottbeck. Dort muß der junge Mann den Zug verlassen. Sein Geld, es war das letzte, reichte nur für ein Billett vom Altonaer Hauptbahnhof nach Klein-Flottbeck. Jetzt oder nie. Zahnarzt Claußen saß noch immer ruhig, seine Zeitung lesend in einer behaglichen Polsterecke. Der junge Unhold zog unbemerkt das Beil aus seiner Hosentasche und – versetzte plötzlich damit dem Zahnarzt fünf Schläge auf den Kopf. Die Schläge waren von dem sehr stark gebauten Menschen ungemein kräftig geführt. Der Schädel war dem Zahnarzt vollständig zertrümmert, das Gehirn in weitem Bogen herumgespritzt. Bereits der erste Schlag war mit einer solchen Wucht geführt, daß er tödlich wirkte. Ohne einen Lauf von sich zu geben, fiel der Zahnarzt vom Sitz. Der Mörder schlug aber noch weiter. Als er sich überzeugt hatte, daß sein Opfer tot war, kniete er auf die Leiche und raubte dieser Uhr, Kette und Portemonnaie. In diesem Augenblick pfiff der Zug, er war bald darauf in der Station Klein-Flottbeck eingelaufen. Der vollständig mit Blut besudelte Mörder stieg aus. An der Sperre fiel er wohl dem Billettschaffner auf. »Sie sind ja von oben bis unten mit Blut bespritzt,« rief ihm der Schaffner zu. »Ich habe Nasenbluten gehabt,« gab der Mörder zur Antwort. Der Schaffner konnte unmöglich in diesem Menschen einen Raubmörder vermuten. Der Mörder flüchtete in eine Bedürfnisanstalt. Dort suchte er, so gut es ging, seine Kleidung zu säubern. Er öffnete das geraubte Portemonnaie. Viele Goldstücke blinkten ihm entgegen. Damit kannst du schon eine Zeitlang leben, dachte er. Er betrat einen Bäckerladen und kaufte sich ein Schrotbrot. Alsdann stieg er in einen Obstkeller, um sich Äpfel zu kaufen. Er war Vegetarier und Antialkoholiker. Er lebte ausschließlich von trockenem Schrotbrot und Wasser, und wenn er bei Kasse war, gönnte er sich den Genuß eines Apfels. Alkoholische Getränke mied er grundsätzlich. Er hatte noch niemals ein Wirtshaus betreten. Auch der intime Umgang mit Weibern war ihm bis dahin vollständig fremd. Sehr bald langte er zu Fuß in seiner Wohnung in Altona an. Das Beil, das seine Wirtsleute noch nicht vermißt hatten, legte er wieder an dieselbe Stelle, von der er es fortgenommen hatte. Nachdem er sein frugales Abendbrot eingenommen, – die Nacht war inzwischen hereingebrochen – legte er sich zu Bett. Von Schlaf war aber keine Rede. Sein unglückliches Opfer umtaumelte seine Sinne. Er begann heftig zu weinen. Der Gedanke, daß er zum Raubmörder geworden, daß er ewige Schmach und Schande über seine Familie gebracht und womöglich entdeckt werde, ließ ihn kein Auge schließen.

      Kehren wir nun zu der Stätte des Verbrechens zurück. Kaum hatte der Mörder den Bahnhof in Klein-Flottbeck verlassen, da wurde das entsetzliche Verbrechen entdeckt. Schaffner hatten aus dem Kupee Blut sickern sehen. Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich sofort auf den jungen Menschen, der bluttriefend in Klein-Flottbeck ausgestiegen war. Das Verbrechen erregte begreiflicherweise das größte Aufsehen. Noch an demselben Abend entfaltete die Polizei in weiter Umgebung eine fieberhafte Tätigkeit, um des Täters habhaft zu werden. Es wurde sofort ein öffentlicher Aufruf erlassen, in dem eine genaue Beschreibung des Mörders enthalten war. Eine Belohnung von tausend Mark wurde auf die Entdeckung des Mörders ausgesetzt. Den Wirtsleuten des jungen Mörders fiel die Beschreibung auf. Die Wirtin sagte zu ihrem Mann: Weißt du, die Beschreibung paßt auf unseren Chambregarnisten. Wie kannst du so etwas sagen, versetzte unwillig der Mann. Der junge Mensch ist doch so solide und der Sohn sehr anständiger und bemittelter Eltern.

      Am Sonntag morgen, den 11. November 1906, trat die Wirtin des Mörders zu ihm ins Zimmer. Der junge Mann, der sich die ganze Nacht ruhelos auf seinem Lager umhergewälzt hatte, war, obwohl bereits die Morgensonne ins Zimmer schien, gerade in tiefen Schlaf gesunken. Herr Rücker, es ist Zeit zum Aufstehen, die Kirchenglocken läuten bereits, mit diesen Worten weckte die Wirtin den Jungen Mann. Ängstlich schnellte dieser auf und rieb sich schlaftrunken die Augen. Haben Sie von dem furchtbaren Raubmord schon gehört, der gestern nachmittag im Eisenbahnzug zwischen Altona und Klein-Flottbeck passiert ist? fragte die Wirtin. Es herrscht eine furchtbare Aufregung in der Stadt. Auf die Ergreifung des Mörders ist eine Belohnung von 1000 Mark ausgesetzt. Der junge Mann wurde leichenblaß, er vermochte kein Wort herauszubringen. Er sprang aus dem Bett und kleidete sich eiligst an. Fiebernd vor Angst riß er die Fenster auf. Da sah er mehrere Menschengruppen, die sich über den entsetzlichen Raubmord im Eisenbahnkupee, lebhaft die Hände zusammenschlagend, unterhielten. Eine dichte Menschenschar umlagerte eine öffentliche Anschlagsäule. Auf dieser prangte ein großes, feuerrotes Plakat, vom Altonaer Polizeipräsidenten unterzeichnet. Es enthielt eine genaue Mitteilung von dem Raubmord im Eisenbahnkupee und eine ausführliche Beschreibung des mutmaßlichen Mörders, auf dessen Ergreifung 1000 Mark Belohnung ausgeboten wurden. Entsetzlich war dem jungen Mann dieser Anblick. Er schlug die Fenster zu und lief ruhelos im Zimmer auf und ab. Alsdann kleidete er sich vollständig an und verließ das Haus. Plan-und ziellos irrte er in den Straßen Altonas und Hamburgs umher; bei jeder Annäherung eines Konstablers erschrak er. Da faßte er den Entschluß – es war das erstemal in seinem Leben – in ein Wirtshaus zu gehen. Kaum hatte er an einem Tische Platz genommen, da gesellten sich drei Altersgenossen zu dem so überaus sympathisch aussehenden jungen Mann. Obwohl er nur mit Widerstreben das bestellte Bier trank und einige Rundstücke aß – es war auch das erstemal in seinem Leben – ließ er sich von seinen Freunden zureden, es noch mit einigen weiteren Schoppen zu versuchen. Der ungewohnte Alkoholgenuß verursachte ihm einen kleinen Rausch. Mit dem geraubten Gelde bezahlte er für sich und seine neuen Freunde die Zeche. Als die jungen Leute bei dieser Gelegenheit merkten, daß der junge Mann im Besitz vielen Geldes sei, wußten sie ihn zu überreden, mit ihnen ein öffentliches Haus aufzusuchen. Der junge Mann sträubte sich wohl mit dem Bemerken: er empfinde für intimen weiblichen Verkehr keinerlei Neigung, schließlich ließ er sich aber doch überreden. Er sagte sich: dadurch kommst du vielleicht, wenigstens für kurze Zeit, auf andere Gedanken. Allein auch in den Armen der weiblichen Halbwelt, in den Räumen, die von Sekt, Musik, Liebe und fröhlichster Heiterkeit durchrauscht werden, fand der jugendliche Mörder keine Beruhigung. Der gespaltene Schädel und das verzerrte Gesicht des von ihm erschlagenen Opfers grinsten ihm unaufhörlich entgegen. Er eilte sehr bald nach Hause. Ruhe und Schlaf schienen aber für immer von ihm gewichen zu sein. Am Dienstag, den 13. November, war er, von Müdigkeit übermannt, endlich gegen 6 Uhr morgens eingeschlafen. Noch war es finster auf den Straßen. Da pochte es heftig an seine Tür. Der alte Altonaer Polizeiinspektor Engel mit drei Schutzleuten trat ins Zimmer. Sie weckten den jungen Mann, nötigten ihn, sofort das Bett zu verlassen und sich anzukleiden. Alsdann befestigten sie ihm mit einer eisernen Kette die Hände auf dem Rücken und führten ihn zur Polizeiwache. Der junge Mann gestand nach anfänglichem Leugnen, den Raubmord im Eisenbahnkupee begangen zu haben. Er gab an: Er heiße Thomas Rücker. Er sei am 28. Dezember 1888 zu Hermentitz in Böhmen geboren und katholischer Religion. Sein Vater sei Baumeister und ein wohlhabender Mann. Dieser wohne jetzt in Reichenberg in Böhmen. Auch seine Mutter lebe noch. Er habe nur noch einen jüngeren Bruder, der das Gymnasium in Reichenberg besuche. Auch er habe in Reichenberg das Gymnasium bis zur Obersekunda besucht. Er sollte Theologie studieren. Das Lernen sei ihm aber schwer gefallen. Er sei deshalb von der Schule abgegangen und bei einem Reichenberger Gärtner in die Lehre getreten. Der Vater habe ihm auch Musikunterricht geben lassen. Er besitze eine wertvolle Geige, auf der er vorzüglich spielen könne. Nach beendeter Lehrzeit in Reichenberg sei er zwei Semester auf der Gärtnerlehranstalt in Oranienburg bei Berlin gewesen. Von dort sei er als Gärtnergehilfe nach Trier gegangen. Einige Zeit darauf sei er von dem Handelsgärtner Berndt in Wandsbek engagiert worden. Er wurde aber von Berndt nach kurzer Zeit entlassen. Berndt habe ihm ins Arbeitsbuch geschrieben: er sei als Gärtner vollständig unbrauchbar. Berndt habe außerdem zu ihm gesagt: Ich bin erster Schriftführer des deutschen Handelsgärtnerei-Verbandes; ich werde dafür sorgen, daß Sie in Deutschland keine Arbeit mehr erhalten und ausgewiesen werden. Er konnte infolgedessen als Gärtnergehilfe keine Arbeit mehr erhalten. Berndt habe auch zu ihm gesagt: er werde auf die schwarze Liste gesetzt werden. Er habe aber in einer Hamburger Eisenwarenhandlung gegen einen Wochenlohn von 20 Mark eine Anstellung gefunden. Da er Vegetarier und Antialkoholiker sei, konnte er mit einem Wochenlohn von 20 Mark sehr gut auskommen. Allein nach einiger Zeit sei er auch der Stellung in der Eisenwarenhandlung verlustig gegangen. Er konnte alsdann keine Beschäftigung mehr finden. Das wenige Geld, das er besaß, sei bald zu Ende gegangen, er konnte sich daher nicht mehr ein Stückchen Schrotbrot kaufen. Er habe tagelang gehungert. Wenn er seinem Vater geschrieben hätte, würde er umgehend Geld erhalten haben, es widerstrebte ihm aber, sich seinem Vater zu offenbaren. Als er nun eines Nachts vor Hunger nicht einschlafen konnte, kam ihm der Gedanke,

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