Stolz und Vorurteil. Jane Austen
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Читать онлайн книгу Stolz und Vorurteil - Jane Austen страница 22
»Das Testament enthielt eine geringfügige Ungenauigkeit, die dem Gesetz jede Möglichkeit genommen hätte einzuschreiten. Der wirkliche Sinn stand für einen rechtlich denkenden Menschen außer jedem Zweifel – Mr. Darcy jedoch sah sich bemüßigt, seinem Zweifel nachzugeben; er erklärte, das Testament enthalte nur eine bedingte Empfehlung und ich habe alle Ansprüche durch mein lockeres Leben, durch meine Verschwendungssucht, überhaupt aus allen erdenklichen Gründen verloren. Fest steht, daß die Stelle vor zwei Jahren frei wurde und daß ein anderer sie zugesprochen bekam; und nicht weniger steht fest, daß ich mir in aller Aufrichtigkeit nichts vorzuwerfen wüßte, weswegen ich ihrer hätte verlustig gehen müssen. Wahrscheinlich bin ich zu wenig vorsichtig in meinen Äußerungen, und es ist möglich, daß ich über Darcy und zu ihm selbst allzu freimütig gesprochen habe. Etwas anderes kann ich mir nicht
denken. Die Sache ist eben die, daß wir grundverschiedene Charaktere sind und daß er mich haßt.«
»Das ist wirklich abscheulich! So etwas müßte öffentlich gebrandmarkt werden!«
»Früher oder später wird das auch geschehen, aber ich will nicht der Anlaß dazu sein. Die Erinnerung an seinen Vater hindert mich, den Sohn bloßzustellen.«
»Aber«, fragte Elisabeth nach einer Weile, »was mag ihn zu einer so gemeinen Handlungsweise getrieben haben?«
»Vermutlich eine gewisse Eifersucht. Wäre der Vater mir weniger zugetan gewesen, dann hätte der Sohn mich vielleicht mehr geschätzt. Aber die Liebe, die der alte Mr. Darcy mir bewies, hat ihn wohl schon als Kind gereizt. Er war nicht so veranlagt, daß er eine Bevorzugung, wie ich sie genoß, mit Gleichmut hätte ertragen können.«
»So schlecht hatte nicht einmal ich von Mr. Darcy gedacht, wenn ich ihn auch von Anfang an nicht gemocht habe; für so schlecht hätte ich ihn nie gehalten! Ich nahm wohl an, daß er alle Welt verachtet, aber ich ahnte nicht, daß er zu einer so gemeinen Niedertracht, einer solchen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit herabsinken könnte!«
Nach einigen Augenblicken schweigenden Nachdenkens fügte sie hinzu: »Ich erinnere mich allerdings, daß er in Netherfield eines Tages mit seinem unversöhnlichen Charakter prahlte. Er muß ein abscheulicher Mensch sein!«
»Ich möchte mich darüber lieber nicht äußern«, entgegnete Wickham. »Ich kann darüber schwer unbefangen reden.«
Elisabeth schwieg wieder, tief in Gedanken versunken; dann rief sie aus: »Das Patenkind, den Liebling seines Vaters, den eigenen Freund in einer solchen Weise zu behandeln! Einen Freund noch dazu, der von frühester Kindheit an sein bester Gefährte gewesen ist!«
»Ja, den größten Teil unserer Kindheit verbrachten wir zusammen; wir wohnten im selben Haus, spielten die gleichen Spiele, von derselben väterlichen Liebe behütet. Mein Vater übte anfänglich denselben Beruf aus, dem Ihr Onkel hier mit so großem Erfolg nachgeht; aber dann gab er alles auf, um dem alten Mr. Darcy dienen zu können, und verwandte seine ganze Arbeitskraft und seine große Erfahrung auf die Verwaltung des Darcyschen Besitzes. Er stand in hohem Ansehen bei Mr. Darcy und war sein vertrauter Freund. Mr. Darcy hob immer wieder die große Dankbarkeit hervor, zu der ihn meines Vaters tätige Hilfe verpflichtete, und als er meinem Vater kurz vor dessen Tode freiwillig das Versprechen gab, für mich sorgen zu wollen, da tat er es bestimmt ebensosehr, um seine Dankesschuld seinem alten Freunde gegenüber abzutragen, wie aus Liebe zu mir.«
»Wie häßlich von Mr. Darcy!« rief Elisabeth aus. »Wenn er schon keiner besseren Regung nachgeben wollte, dann hätte er doch zu stolz sein müssen, um so unehrenhaft zu handeln; anders kann man das nicht nennen!«
»Ja, es ist wirklich unerklärlich«, erwiderte Wickham, »denn seine ganze Handlungsweise wird doch sonst von diesem Stolz beherrscht, und der Stolz hat sich oft als sein bester Freund bewiesen; keine andere Regung hätte es je vermocht, ihn auf der geraden Bahn zu halten. Aber wir sind alle zu Zeiten unberechenbar, und sein Verhalten gegen mich wurde eben von einem noch stärkeren Gefühl bestimmt, als es sein Stolz ist.«
»Dieser abscheuliche Hochmut sollte sein Freund gewesen sein?«
»Ja, denn er hat es bewirkt, daß Darcy häufig freigebig und großzügig auftritt. Dann gibt er den Bedürftigen mit vollen Händen, unterhält ein gastfreundliches Haus, erläßt seinen Mietern die Zahlung und hilft den Armen. Familienstolz ist das und auch Sohnesstolz; denn er ist sehr stolz auf die Stellung, die sein Vater einnahm. Der Wunsch, der Familie Ehre zu machen und der eigenen Beliebtheit keinen Abbruch zu tun, ist eine starke Triebkraft. Er besitzt auch noch einen Bruderstolz, der ihn zusammen mit einer gewissen brüderlichen Liebe zu einer starken Stütze seiner Schwester macht; Sie werden von ihm nie anders als von einem guten und liebevollen Bruder sprechen hören.«
»Wie ist Miss Darcy?«
Wickham schüttelte den Kopf.
»Ich wünschte, ich könnte antworten: sehr liebenswert. Es schmerzt mich tief, von einer Darcy nichts Gutes sagen zu können. Aber sie ähnelt ihrem Bruder zu sehr; sie ist stolz, allzu
stolz. Als Kind war sie freundlich und zutraulich und mir äußerst zugetan; aber jetzt ist sie mir ganz fremd geworden. Sie sieht gut aus, ist etwa sechzehn Jahre alt und, soviel ich gehört habe, sehr gebildet. Seit dem Tode ihres Vaters wohnt sie in London bei einer Dame, die ihre Erziehung leitet.«
Sie versuchten danach, von diesem und jenem zu reden, aber nach einer längeren Pause kehrte Elisabeth zu dem Thema zurück, das sie am meisten beschäftigte.
»Wie mag es nur kommen, daß Mr. Bingley, der doch die Liebenswürdigkeit in Person ist, sich zu einem solchen Menschen hingezogen fühlt? – Kennen Sie Mr. Bingley?«
»Nein, gar nicht.«
»Er ist ein reizender, geselliger und fröhlicher Mensch. Ob er Mr. Darcy vielleicht noch nicht durchschaut hat?«
»Das ist sehr gut möglich. Mr. Darcy versteht sich darauf, gefällig zu erscheinen, wenn er sich etwas davon verspricht. An Fähigkeiten mangelt es ihm ja durchaus nicht. Er kann ein unterhaltsamer Gesellschafter sein, wenn es sich für ihn lohnt. Unter seinesgleichen ist er ja ein ganz anderer Mensch, als wenn er mit Leuten zusammen ist, denen er sich überlegen fühlt. Sein Dünkel bleibt immer der gleiche; aber unter Umständen hält er es für richtig, je nachdem den Freimütigen, den Rechtlichen, den Ernsten, den Vernünftig-Kalten und sogar den Liebenswürdigen zu spielen: das richtet sich ganz nach der Stellung und dem Vermögen des anderen.«
Bald darauf ging die Partie Whist zu Ende, und die Spieler versammelten sich um den Lottotisch; Mr. Collins nahm zwischen Elisabeth und Mrs. Philips Platz. Viel Glück habe er nicht gehabt, vertraute er seiner Gastgeberin auf ihre höfliche Nachfrage hin an; das heißt, er habe nicht ein einziges Spiel gemacht. Aber als Mrs. Philips ihn deshalb bedauerte, versicherte er ihr mit großer Würde, das spiele gar keine Rolle, Geld bedeute ihm nichts; er bäte sie, sich deshalb keine Gedanken zu machen.
»Ich bin mir dessen wohl bewußt«, sagte er, »daß man mit den Launen des Spiels rechnen muß, wenn man sich an einen Kartentisch setzt. Glücklicherweise erlaubt mir mein Einkommen, einen Verlust von fünf Schilling als nicht der Rede wert zu erachten. Zweifellos gibt es manch einen, der nicht dasselbe von sich sagen könnte, aber dank Lady Catherines Güte bin ich nunmehr in weitestem Maße der Notwendigkeit enthoben, auf Kleinigkeiten achthaben zu müssen.« Wickham horchte auf; er betrachtete Mr. Collins einige Augenblicke und wandte sich dann leise an Elisabeth mit der Frage, ob ihr Verwandter in näheren Beziehungen zur Familie de Bourgh stehe.
»Lady Catherine hat ihm kürzlich eine Pfarre verschafft«, entgegnete