Inmitten der Heide. Werner Hetzschold
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Maria will Krankenschwester werden, will Menschen pflegen, sich um sie kümmern, für sie da sein. Bereits in der Grundschule in Stoporsk erwähnt sie diesen Berufswunsch gegenüber ihrer Lehrerin. Die Lehrerin nickt, lächelt und sagt, dass der Beruf einer Krankenschwester ein schöner Beruf sei. Die Lehrerin ist wie alle Lehrerinnen seit dem Ende des Krieges nur für ein Schuljahr im Dorf, dann verlässt sie es. Die Gründe dafür ähneln sich immer wieder. Ihre Lehrerin will heiraten, in die Gegend zurückkehren, in der sie zu Hause ist. Als Maria die neunte Klasse der Polytechnischen Oberschule im Süden der Stadt Grabin besucht, hat sich nichts an ihrem Berufswunsch geändert. Selbstbewusst setzt sie den Berufsberater von ihrem Entschluss in Kenntnis, auch dass sie eine Ausbildung als Hebamme anstrebt. Der Berufsberater befürwortet ihre Entscheidung, findet die Begründung ausgezeichnet, dass sie Babys zum Leben verhelfen will. Er ist auch von ihrem Zeugnis sehr beeindruckt. Nur als es um den Ausbildungsplatz geht, beginnen die Probleme. In Bad Saarow stellt er ihr einen Ausbildungs-Platz in Aussicht, in einem Armee-Lazarett, einem Krankenhaus für Armee-Angehörige. Maria ist schockiert. In einem normalen Krankenhaus will sie ihre Ausbildung absolvieren, nicht in einem Armee-Krankenhaus. Überzeugt ist sie, dass in einem solchen Krankenhaus nur junge Männer liegen und gepflegt werden müssen. Und in einem Krankenhaus, in dem nur Männer sich aufhalten, will sie nicht arbeiten. Sie bittet sich Bedenkzeit aus, die der Berater ihr großzügig gewährt.
„Überleg dir das gut, ob du unter diesen Umständen Krankenschwester werden willst“, sagen Vater und Mutter.
„Überleg dir das gut“, sagen die Großeltern. „Soldaten sind Soldaten. Eine junge Krankenschwester hat es nicht leicht unter ihnen.“
Keiner kann ihr raten, will ihr raten.
Ihr wird die Entscheidung abgenommen. Ihre Freundin Veronika aus Grabin bestürmt sie mit dem Vorschlag: „Wir gehen nach Leipzig, werden Lehrerinnen. Stell dir vor, wir sind Studentinnen. Und dann in Leipzig!“
So wird Maria weder Krankenschwester noch Hebamme. Für sie ist Leipzig nicht nur eine große Stadt, sondern die Messe-Stadt, die Welt. Die Enttäuschung lässt nicht auf sich warten. Ihre Freundin Veronika und sie erhalten einen Brief von dem Lehrerbildungsinstitut. Ihnen wird mitgeteilt, dass keine freien Studienplätze offen stünden, ihnen wird empfohlen, sich an die Henriette-Goldschmidt-Schule zur Ausbildung als Kindergärtnerin zu wenden, vielleicht gäbe es dort noch freie Studienplätze. Ihre Freundin zögert nicht, drängt: „Ehe die Studienplätze dort auch weg sind, bewerben wir uns gleich. Lehrerinnen können wir auch später werden!“
Sie haben Glück. Der Weg nach Leipzig steht ihnen offen. Die Ausbildung zur Kindergärtnerin beginnt. Drei Jahre Studium erwarten sie. Dann folgt die praktische Ausbildung. Marias künftiger Arbeitsplatz steht schon fest. Der Rat des Kreises Grabin plant sie als künftige Mitarbeiterin im Kindergarten ihrer Heimat-Gemeinde Stoporsk ein. Äußerst zufrieden sind die Eltern, die Großeltern mit dieser Entscheidung der lokalen Entscheidungsträger. Die berufliche Zukunft ihrer Tochter, ihrer Enkelin ist abgesichert. Eine sichere Perspektive, ein sicherer Arbeitsplatz, ein lebensnotwendiger erwartet sie. Für Marias Familie steht die Arbeit im Mittelpunkt. Sie ist die erste und wichtigste Pflicht, die getan, die erledigt werden muss. Dass die Erziehung zum sozialistischen Bewusstsein und zur gesellschaftlichen Aktivität im Mittelpunkt steht, ist für die beiden Freundinnen eine Selbstverständlichkeit. Diese Forderung wird nicht hinterfragt, ist Bestandteil ihrer Erziehung, seit sie Schülerinnen sind. Maria wird nicht in Konflikte gestürzt, als sie die Jugendweihe und die Konfirmation in der achten Klasse feiern darf. Der Stoporsker Pfarrer ermöglicht es. In anderen Dörfern, so weiß es Maria, liegt zwischen Konfirmation und Jugendweihe ein Jahr. Die Wahl der Reihenfolge bestimmt der Pfarrer. Veronika wählt nur die Jugendweihe. Ihre Familie bekennt sich offen zum Arbeiter- und Bauernstaat. Veronika wächst ohne Vater auf, kennt ihn nur von Fotos. Irgendwo in der Sowjetunion liegt er begraben. Wie so viele Väter! Als ein neuer Lebensabschnitt für die beiden Freundinnen beginnt, sind sie Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Veronika übt bereits eine Funktion innerhalb der FDJ aus. Sie ist Stellvertreterin der FDJ-Sekretärin der 10. Klasse an der Polytechnischen Oberschule. Mit der Angabe dieser Funktion punktet Veronika bei Studien-Aufnahme.
Noch immer liegt Maria im Bett. An ihre Ausbildung als Kindergärtnerin erinnert sie sich. Für sie und später in der Praxis erfuhr sie die Bestätigung. Es war es eine sehr gute, eine fundierte Ausbildung, nicht nur im politischen Sinne. Die Politik, die Ideologie gehörten einfach dazu, waren fester Bestandteil. Keiner dachte in ihrer Studiengruppe über den Sinn, den Zweck einer solchen politischen Ausbildung nach. Sie hatten sie bereits verinnerlicht, sie gehörte zu ihnen wie das Amen in der Kirche. Ihr ist bewusst, sie wurde an dieser Schule zu einer tüchtigen, allseitig gebildeten Kindergärtnerin geformt, die ihren Wissensstand immer auf den neuesten Stand zu bringen hatte. Später kam noch das Parteilehrjahr hinzu, das sie als Kindergärtnerin zu besuchen hatte, unabhängig davon, ob sie der SED als Mitglied angehörte oder nicht.
Für Maria gestaltet sich Leipzig zum Erlebnis. Kein Heimweh verspürt sie. Die Wiesen, Felder und die Wälder mit ihrem Kiefernbestand, aufgelockert durch Birken und Erlen, sind weit weg. Keine Sehnsucht quält sie. Sie weiß, die Eltern führen ihr gewohntes Leben, passen ihren Tagesablauf dem Schichtablauf in der Kokerei an. Die Freundinnen und Bekannten besuchen Berufsschulen. Manche sind wie sie die Woche über in der Fremde. Wie die Montage-Arbeiter, die montags ihr Dorf hinter sich zurücklassen, um am Freitagabend in ihr Dorf zurückzukehren. Bevor sie die Richtung zu Frau und Kindern einschlagen, treffen sich die Männer, die Daheimgebliebenen und die Rückkehrer, im Dorfkrug. Veronika und Maria zieht es nicht zurück in die Niederlausitz. Sie verständigen ihre Familie von ihrem Entschluss, nicht jedes Wochenende die Heimreise anzutreten. Bald fahren sie nur nach Hause, wenn die Kleidung gewechselt, ausgetauscht und gewaschen werden muss oder in den Semesterferien, wenn das Internat schließt.
In den ersten Wochen am Abend durchstreifen die beiden jungen Frauen mit der Straßenbahn die Vororte, wählen immer neue Linien und Ziele, erobern die Stadt, lernen sie gründlich kennen. Es dauert nicht lange, und die beiden Studentinnen verlieben sich in das Corso, ein Café aus Plüsch und Romantik. Dieses Café ist der Treffpunkt vieler Studenten, vor allem die Künstler unter ihnen verabreden sich in diesem beschaulichen, bequemen, ehrwürdigen Ambiente. Nicht lange dauert es, und Veronika kopiert die anwesenden Kunststudenten. Wie sie betritt Veronika mit einer riesigen Zeichenmappe das Café. Maria hält nichts von dieser Vorspiegelung falscher Tatsachen, beschränkt sich auf ihre schlichte Anwesenheit ohne Benutzung irgendwelcher Requisiten. Stundenlang kann sie gemeinsam mit Veronika hinter einer Tasse Kaffee auf der bequemen Polsterung verbringen und das Fluidum wie die anwesenden älteren Damen genießen. Das Wort Fluidum ist eine Wortschöpfung ihrer Freundin Veronika. Maria benutzt das Wort Atmosphäre, das in ihren Ohren auch sehr schön klingt. Und auch gebildet, wie die Freundin bestätigt. Den Künstler-Look ihrer Freundin ahmt Maria nicht nach, trotz deren Überzeugungsarbeit. Mit ihren Eltern, mit ihren Freundinnen und Bekannten im Dorf, in der Kreisstadt spricht sie nicht über ihre Erfahrungen, die sie in der großen, weiten Welt sammelt. Ihnen allen gegenüber verschweigt sie ihre Empfindungen. Sie hätten sie nicht verstanden. Für viele aus ihrer unmittelbaren Umgebung ist die Stadt etwas Unpersönliches, etwas Undurchschaubares, etwas Fremdes, eine Welt, in der sie nicht leben möchten. Als die Eltern einmal zu ihr nach Leipzig kommen, um sich das Internat, die Schule anzusehen, spürt Maria, sie können es nicht erwarten, die Rückreise anzutreten. Nicht einmal Zeit für einen Einkauf im Zentrum der Stadt haben sie. Je länger Maria in Leipzig sich aufhält, desto wohler fühlt sie sich. Anfangs verunsicherte sie die Tatsache, dass die Menschen am Wochenende nicht die