Der Monddiamant. Уилки Коллинз
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Sie schreckte auf, als ich vor sie hintrat, und wandte ihren Kopf von mir weg. Da das Michnichtansehen auch eine Manier ist, die ich als Vorgesetzter der Domestiken prinzipiell nicht dulde, drehte ich ihr Gesicht mir wieder zu und sah, daß sie weinte. Mein seidenes Schnupftuch, eines von sechs Prachtstücken, die mir Mylady zum Geschenk gemacht hatte, steckte in meiner Tasche. Ich zog es heraus und sagte zu Rosanna »Komm mein Kind, setze Dich zu mir auf den Strand. Ich will erst Deine Thränen trocknen und mir dann die Frage erlauben, warum Du geweint hast.«
In meinem Alter ist das Niedersetzen am Strande ein viel schwereres Stück Arbeit, als junge Leute es sich träumen lassen. Bis ich mit mir in Ordnung war, hatte Rosanna ihre Augen schon selbst mit ihrem eigenen ganz ordinairen Batist-Schnupftuch getrocknet. Sie war ganz ruhig und sah sehr unglücklich aus; aber sie setzte sich zu mir. Wenn man ein Mädchen auf die einfachste Weise trösten will, muß man sie auf den Schoß nehmen. Ich befolgte diese goldene Regel. Aber o weh! Rosanna war nicht wie Nancy, das muß wahr sein.
»Nun erzähle mir, mein Kind,« sagte ich, »Warum weinst Du?«
»Über die vergangenen Jahre, Herr Betteredge,« antwortete Rosanna ruhig, »mein früheres Leben tritt mir noch bisweilen vor die Seele.«
»Komm, komm, mein Kind,« erwiderte ich. »Dein vergangenes Leben ist völlig ausgewischt: Warum vergißt Du es nicht?«
Sie ergriff einen meiner Rockschöße. Ich bin ein nachlässiger alter Mann und eine gute Portion von meinem Essen und Trinken bleibt aus meinen Kleidern sitzen, die bald von einem, bald von dem andern der Mädchen wieder gereinigt werden. Tags zuvor hatte Rosanna einen Fleck auf meinem Rockschoß mit einem ganz neuen und als vorzüglich gerühmten Fleckwasser ausgemacht. Das Fett war zwar fort, aber die Stelle, wo der Fleck gesessen hatte, war doch noch sichtbar. Das Mädchen zeigte auf die Stelle und schüttelte mit dem Kopfe.
»Der Fleck ist fort, Herr Betteredge,« sagte sie, »aber die Stelle bleibt sichtbar.«
Eine Bemerkung, die sich auf den eigenen Rock eines Mannes stützt, ist nicht leicht zu widerlegen. Überdies war in jenem Augenblick etwas in dem Wesen des Mädchens selbst, das meine besondere Theilnahme erweckte. Sie hatte hübsche braune Augen trotz ihrer sonstigen Häßlichkeit, und sie blickte auf mich mit einem Ausdrucke sehnsüchtiger Ehrfurcht vor meinem glücklichen Alter und meinem guten Ruf, Dinge, die für sie auf immer unerreichbar bleiben würden, und das machte mir das Herz schwer. Da ich mich außer Stande fühlte, sie zu trösten, so gab es nur Eines für mich in diesem Augenblick zu thun, und das war, sie zum Essen zu überreden.
»Hilf mir auf,« sagte ich, »denn das Essen wartet auf Dich, Rosanna, und ich bin gekommen, um Dich zu holen.«
»Sie, Herr Betteredge?« fragte sie.
»Sie wollten Nancy an Dich abschicken, aber ich dachte, Du würdest Deine Schelte lieber von mir hinnehmen.«
Statt mir aufzuhelfen, drückte mir das arme Ding verstohlen die Hand. Sie kämpfte stark gegen die wieder aufsteigenden Thränen, und mit Erfolg, was mir Achtung für sie einflößte.
»Sie sind sehr gütig, Herr Betteredge,« sagte sie, »aber ich brauche heute kein Mittagessen lassen Sie mich noch ein wenig hier bleiben.«
»Warum bist Du gern hier,« fragte ich, »was in aller Welt führt Dich immer wieder an diesen elenden Platz?«
»Es zieht mich etwas hierher,« erwiderte das Mädchen und zeichnete dabei mit ihren Fingern Figuren in den Sand. »Ich versuche es immer wieder, wegzubleiben, aber ich kann nicht. Zuweilen,« fuhr sie mit leiser Stimme fort, als ob der Gedanke sie selbst erschreckte, »zuweilen scheint es mir, Herr Betteredge, als ob mein Grab mich hier erwarte.«
»Zu Hause erwartet Dich aber Hammelbraten und Pudding,« warf Ich ein. »Komm, geh gleich zum Essen. Solche Gedanken, wie Du sie hast, kommen aus einem leeren Magen.« Ich sprach mit Strenge in der ganz natürlichen Entrüstung meines Alters; ein Mädchen von 25 Jahren von ihrem Tode sprechen zu hören. Sie schien mich nicht zu hören, sondern legte ihre Hand auf meine Schulter und hielt mich auf meinem Platze an ihrer Seite fest.
»Mir ist, als ob dieser Platz einen Zauber auf mich übte,« fing sie wieder an. »Ich träume jede Nacht davon. Ich muß daran denken, während ich bei meiner Arbeit sitze. Sie wissen, daß ich nicht undankbar bin, Herr Betteredge, daß ich mir Mühe gebe, Ihre Güte und Mylady’s Vertrauen zu verdienen. Aber es kommt mir zuweilen vor, als ob das Leben hier zu gut und zu ruhig für ein Mädchen wäre, das so viel durchgemacht hat wie ich, Herr Betteredge, so viel durchgemacht! Ich fühle mich einsamer unter den anderen Mädchen in dem Gefühl, daß ich nicht zu ihnen gehöre, als hier. Mylady weiß eben so wenig wie die Hausmutter im Besserungshause welch ein schrecklicher Vorwurf, unbescholtene Menschen für ein Mädchen wie ich sind. Schelten Sie mich nicht, Sie sind auch gut. Ich thue ja meine Arbeit, nicht wahr? Bitte, sagen Sie Mylady nicht, ich wäre unzufrieden, denn das ist nicht der Fall. Mein Gemüth ist zuweilen unruhig, das ist Alles.«
Sie riß ihre Hand plötzlich von meiner Schulter weg und deutete mit derselben auf den Flugsand hin.
»Sehen Sie,« rief sie, »ist das nicht großartig, ist nicht schrecklich. Ich habe das wohl zwanzig Mal gesehen und doch ist es mir jedesmal so neu, als hätte ich es noch nie gesehen!«
Ich sah ihrer Hand nach. Die Fluth kam eben heran und der Sand begann sein grausiges Zittern? Die breite braune Oberfläche desselben hob sich langsam und fing dann an, an allen Stellen zu schwanken und zu zittern.
»Wissen Sie, was mir das für einen Eindruck macht,« sagte Rosanna, indem sie ihre Hand wieder auf meine Schulter legte; »Es kommt mir vor, als ob Hunderte von erstickenden Menschen darunter wären, die Alle ringen, an die Oberfläche zu gelangen und immer weiter und weiter in die schreckliche Tiefe hinabsinken. Werfen Sie einen Stein hin, Herr Betteredge, werfen Sie einen Stein hinein und sehen Sie, wie der Sand ihn verschluckt!«
Das war ungesundes Gerede, das war die Wirkung eines leeren Magens auf ein unruhiges Gemüth. Eben wollte ich ihr eine Antwort geben und zwar eine, die das Mädchen in seinem eigenen Interesse tüchtig zurecht gesetzt hätte, als sie mir plötzlich durch eine Stimme abgeschnitten wurde, die mich von den Dünen her bei meinem Namen rief.
»Betteredge,« rief es, »wo sind Sie.«
»Hier« rief ich zurück, ohne eine Ahnung davon zu haben, wessen Stimme mich gerufen habe.
Rosanna richtete sich rasch auf und blickte nach der Richtung, von wo die Stimme kam. Ich wollte mich eben auch aufrichten, als mich ein plötzlicher Wechsel in dem Gesichtsausdruck des Mädchens betroffen machte.
Ihr Gesicht übergoß sich mit einem schönen Roth, wie ich es nie zuvor an ihr gesehen hatte und strahlte in einem sprach- und atemlosen Staunen.
»Wer ist das?« fragte ich.
Sie aber gab mir als Antwort meine eigene Frage zurück.
»O, wer ist es?« sagte sie leise mehr zu sich selbst, als zu mir.
Ich drehte mich im Sande herum und blickte rückwärts Da kam von den Hügeln her ein junger Mann auf uns zu, der in einem hellbraunen Anzug mit Hut und Handschuhen von gleicher Farbe, eine Rose im Knopfloch und ein Lächeln auf seinen