der Schatz im Acker. Hermann Brünjes
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Eine Frau und ein Mann treten ans Mikrofon. Ich kenne sie nur vom Sehen. Sie kommen aus einer Nachbargemeinde. Abwechselnd tragen sie zusammen, wofür sie danken. Woran ich eben dachte, ist auch dabei, aber ihre Liste ist gewissermaßen unendlich. Das Meckern, Problematisieren, Kritisieren und Nörgeln der letzten Monate hat in ihrem vorbereiteten Text nichts mehr zu suchen. Nur die Dankbarkeit. Es wird nicht verschwiegen, was belastet. Klimakrise, Flutkatastrophe, Kriege, Corona, Afghanistan, Flüchtlinge ... all das wird wahrgenommen. Aber in all dem entdecken die beiden den Gott an unserer Seite und formulieren einen großartigen »Psalm« der Dankbarkeit.
Ich muss nachher unbedingt fragen, ob ich den Text bekomme. Vielleicht kann ich ihn mal in einer Samstagsausgabe unterbringen. Wenn mein Chef Florian Heitmann sich im Kollegenkreis auch als Kirchen- und Religionshasser präsentiert – manchmal hat auch er lichte, emotionale Momente und lässt außer Fakten auch Deutungen und Interpretationen der Wirklichkeit zu.
Wie so oft in Gottesdiensten und wortlastigen Veranstaltungen macht sich mein Denken selbstständig. Zwar merke ich, dass inzwischen die Predigt »läuft«, aber ich bin mit meinen Gedanken immer wieder woanders.
Wofür habe ich zu danken? Für Maren, fällt mir zuerst ein, auch wenn wir oft in verschiedenen Welten leben. Für meinen Job, den ich als Berufung erlebe, auch wenn es manch ätzende Aufgabe gibt. Für ausreichend Einkommen, auch wenn ein Lottogewinn nicht schlecht wäre. Für das zarte Pflänzchen meines Glaubens, auch wenn Zweifel und gelegentlich schlechte Erfahrungen mit Kirche und Christen es manchmal kräftig durchschütteln. Für meine Nachbarn und Freunde im Dorf, auch wenn es immer wieder Zerwürfnisse gibt. Ja, ich habe viel, wofür ich danken und »Erntefest« feiern kann. Keine Kartoffeln, Äpfel oder Rüben, wie sie vorn am Altartisch liegen, aber manch gute Story und viele tolle Menschen und Erlebnisse, die ich niemals missen möchte. Auch wenn ...
Mir fällt plötzlich auf, dass ich immer wieder dieses »auch wenn« anfüge. Einfach nur danken fällt mir offenbar schwer. Immer wieder fehlt noch etwas an der Vollkommenheit meines Lebens. Ob das normal ist und allen anderen auch so geht? Ob Leben immer auch die Suche nach mehr Leben beinhaltet?
Pastor Werners Predigt ist überraschend kurz. Oder kommt mir das nur so vor, da ich dauernd in eigene Gedanken abdrifte? Er spricht von einem Schatz, den man nicht materiell und gegenständlich beschreiben kann, der aber doch sowohl über die eigene Zufriedenheit als auch über das Zusammenleben von Menschen entscheidet. Ob ich diesen Schatz gefunden habe? Maren nenne ich gelegentlich »Mein Schatz«. Wieder schweifen meine Gedanken in eine andere Richtung. An Maren denke ich ausgesprochen gerne. Sie bringt mich gewissermaßen immer wieder »auf Kurs«.
»Es ist eine Schande, dass wir als Christen immer noch nicht gemeinsam handeln oder zu selten.« Jetzt redet Pastor Werner von der Kirche und den trennenden Konfessionen. Ich denke an meine Erfahrungen mit Kirche ...
Ob ich jetzt sogar ein bisschen eingenickt bin? Zum Thema »Kirche« würde das aus Sicht mancher Zeitgenossen ja passen. Posaunenklang bringt mich zurück. Der Gottesdienst ist zu Ende.
Rübezahl streckt mir seine Faust entgegen. Ich ticke meine dagegen. »Jens, preist den Herrn! Wie schön, dass uns die Gnade einer neuen Begegnung zuteil wird.« Rübezahl ist nicht nur eines, er redet auch wie ein Original.
»Walter, ich freue mich auch, dich zu sehen!«
Wir unterhalten uns einen Moment. Wieder ist er schnell bei der immer gottloseren Welt. Ob Corona eine Strafe Gottes ist? Er geht davon aus. Aber wir müssen uns eben alle demütig darunter beugen ... So sehr ich Rübezahl seinen Glauben und seine Freude an Gott abnehme, so sehr ist mir seine negative Weltsicht doch mehr als suspekt.
Am Ausgang drückt uns Irene, eine treue und liebenswerte Kirchgängerin, zwei Zettel in die Hand. Einer ist die Einladung zu einem Seminar anlässlich des Reformationstages, der andere die Werbung für heute Abend. Die Deutsche Einheit soll bei uns in Himmelstal nicht nur im Gottesdienst, sondern den ganzen Tag über gefeiert werden. Gleich gibt es Erbsensuppe aus der Gulaschkanone der Freiwilligen Feuerwehr. Darauf freue ich mich schon. Für den Nachmittag hat das Team vom Kindergottesdienst ein buntes Programm für Kids vorbereitet. Maren engagiert sich da. Ich Oldie kann also ein kleines Nickerchen machen.
Zum Tanzabend mit den »Egerländer Heidjern« bin ich dann wieder fit. »Danz op de Deel« mit Bratwurst, Schnaps und Bier – für viele im Dorf ist das der Höhepunkt einer jeden Feier, und wenn schon Einheit, wo sonst sollte sie so intensiv und körperlich erlebt werden wie an der Theke und auf der Tanzfläche? Klar, dass Maren und ich nachher dabei sein werden! Ich nehme mir fest vor, heute Abend weniger zu trinken als etwa beim Maibaumpflanzen. Damals, am ersten Mai, begleitete meinen peinlichen Absturz dieselbe Band.
*
Mit einem Teller heißer Erbsensuppe auf dem Schoß sitzen Maren und ich auf einer Bank mit Blick auf Kirche und Wiese am Tagungshaus. Es ist wegen des Windes nicht besonders warm, aber die Sonne scheint. Ein »goldener Oktober« hat uns begrüßt. Kalte Nächte, sonnige Tage. Die Birken verlieren bereits ihre Blätter, das Grün der anderen Bäume verwandelt sich in gelb, rot und braun. Nur die Eichen trotzen noch dem herbstlichen Wandel.
Auf der Wiese wuseln Kinder herum. Sechs Jugendliche nutzen den Volleyballplatz und pritschen oder baggern einen hellroten Ball über das Netz. Familien belagern die aufgestellten Biertischgarnituren und löffeln wie wir ihre Suppe. Einige ältere Damen bilden einen Halbkreis, stützen sich auf ihre Gehhilfen und beobachten das Treiben vor sich. Es sind Bewohnerinnen der kleinen Seniorenresidenz in unserem Dorf. Fast jeden Tag spazieren sie mit ihren Rollatoren im Dorf herum.
Maren isst ihre Suppe und klönt nebenbei mit zwei Frauen vom Kindergottesdienstteam. Wegen des Nachmittags gibt es noch manches zu verabreden.
Ich beobachte die Menschen um mich herum. Das mache ich gerne, erzählen sie mir doch allein durch ihr Aussehen und Verhalten manch interessante Geschichte. Durch die lichten Büsche sehe ich viele PKW, abgestellt rund um die Kirche. Endlich mal wieder volle Parkplätze! An Sonntagen in Coronazeiten standen hier nur einzelne Autos, wenn überhaupt.
Am Haus gegenüber der Kirche hält ein hellgrauer Mercedes. Er fällt mir auf, weil ich selbst einmal eine solche Limousine der E-Klasse gefahren bin. Die Beifahrertür öffnet sich und ein Mann steigt aus. Er passt nicht richtig zum Publikum dieser kirchlichen Veranstaltung. Der etwa Dreißigjährige ist klein, drahtig und entweder sportlich oder militärisch durchtrainiert. Er trägt eine enge Jeans, ein offenes gelbes Hemd und eine schwarze Lederjacke.
Sich suchend umsehend kommt der Mann über die Straße auf das Gelände vom Tagungshaus. Jetzt bewegt er sich er in meine Richtung. Haare und Bart des Mannes wirken gepflegt. Er trägt eine goldene Kette um den Hals und eine Tätowierung auf beiden Handrücken. Es wirkt, als suche der Mann jemanden. Zweimal spricht er Gäste an. Beide schütteln mit dem Kopf.
Allerdings scheint sich der Mann nicht besonders wohl zu fühlen. Nach kurzer Zeit verschwindet er wieder in Richtung Mercedes. Er öffnet die Beifahrertür, spricht mit dem Fahrer, steigt ein und der Mercedes fährt davon. Ich überlege, ob ich die beiden Gäste, mit denen der Mann geredet hat, frage, worum es ging. Aber Maren stößt mich an.
»Jens, bringst du bitte die leeren Teller weg? Ich muss gleich zum Kinderprogramm.«
Klar doch. Besonders Journalisten kümmern sich ums schmutzige Geschirr der Gesellschaft! Ich sammle noch die