Die Wahlverwandtschaften. Johann Wolfgang von Goethe

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Die Wahlverwandtschaften - Johann Wolfgang von Goethe

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      »Unsere vortreffliche Vorsteherin läßt mich gewöhnlich die Briefe lesen, in welchen sie Beobachtungen über ihre Zöglinge den Eltern und Vorgesetzten mitteilt.

      Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind, lese ich immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergnügen; denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Glück zu wünschen haben, die alle jene glänzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt emporsteigt, so muß ich wenigstens Sie nicht minder glücklich preisen, daß Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl, zur Zufriedenheit anderer und gewiß auch zu seinem eigenen Glück geboren ward. Ottilie ist fast unser einziger Zögling, über den ich mit unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann.

      Ich verarge dieser tätigen Frau keinesweges, daß sie verlangt, man soll die Früchte ihrer Sorgfalt äußerlich und deutlich sehen; aber es gibt auch verschlossene Früchte, die erst die rechten, kernhaften sind und die sich früher oder später zu einem schönen Leben entwickeln.

      Dergleichen ist gewiß Ihre Pflegetochter.

      Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwärts, nie zurück.

      Wenn es bei einem Kinde nötig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es gewiß bei ihr.

      Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht.

      Sie steht unfähig, ja stöckisch vor einer leicht faßlichen Sache, die für sie mit nichts zusammenhängt.

      Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das Schwerste begreiflich.

      Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschülerinnen zurück, die mit ganz andern Fähigkeiten immer vorwärtseilen, alles, auch das Unzusammenhängende, leicht fassen, leicht behalten und bequem wieder anwenden.

      So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche von trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden.

      Man hat über ihre Handschrift geklagt, über ihre Unfähigkeit, die Regeln der Grammatik zu fassen.

      Ich habe diese Beschwerde näher untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam und steif, wenn man so will, doch nicht zaghaft und ungestalt.

      Was ich ihr von der französischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht.

      Freilich ist es wunderbar: sie weiß vieles und recht gut; nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen.

      Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, so möchte ich sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll, sondern als eine, die erziehen will; nicht als Schülerin, sondern als künftige Lehrerin.

      Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, daß ich selbst als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn für meinesgleichen erkläre.

      Euer Gnaden bessere Einsicht, tiefere Menschen- und Weltkenntnis wird aus meinen beschränkten, wohlgemeinten Worten das Beste nehmen.

      Sie werden sich überzeugen, daß auch an diesem Kinde viel Freude zu hoffen ist.

      Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubnis, wieder zu schreiben, sobald ich glaube, daß mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten werde«.

      Charlotte freute sich über dieses Blatt.

      Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vorstellungen zusammen, welche sie von Ottilien hegte; dabei konnte sie sich eines Lächelns nicht enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zöglings hervorzubringen pflegt.

      Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien Denkweise ließ sie auch ein solches Verhältnis, wie so viele andre, vor sich liegen; die Teilnahme des verständigen Mannes an Ottilien hielt sie wert; denn sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu schätzen sei in einer Welt, wo Gleichgültigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind.

      Die topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen nach einem ziemlich großen Maßstabe charakteristisch und faßlich durch Federstriche und Farben dargestellt war und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gründen wußte, war bald fertig; denn weniger Schlaf als dieser tätige Mann bedurfte kaum jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.

      »Laß uns nun«, sagte er zu seinem Freunde, »an das übrige gehen, an die Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da sein muß, aus der sich nachher Pachtanschläge und anderes schon entwickeln werden.

      Nur Eines laß uns festsetzen und einrichten: trenne alles, was eigentlich Geschäft ist, vom Leben!

      Das Geschäft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkür; das Geschäft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not, ja sie ist liebenswürdig und erheiternd.

      Bist du bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freier sein, anstatt daß bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie weggerissen und aufgehoben wird«.

      Eduard fühlte in diesen Vorschlägen einen leisen Vorwurf.

      Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fächern abzuteilen.

      Das, was er mit andern abzutun hatte, was bloß von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander absonderte.

      Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemühung übernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag.

      Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedene Behältnissen, Kammern, Schränken und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fächern. Was man wünschte, ward vollständiger gefunden, als man gehofft hatte.

      Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag über, ja einen Teil der nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewesen war.

      »Ich kenne ihn nicht mehr«, sagte Eduard zu seinem Freund, »wie tätig und brauchbar der Mensch ist«.

      –»Das macht«, versetzte der Hauptmann, »wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat; und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stört, vermag er gar nichts«.

      Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so versäumten sie abends nicht, Charlotten regelmäßig zu besuchen.

      Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und Gütern, welches öfters geschah, so war das Gespräch wie das Lesen meist solchen Gegenständen gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und das Behagen der bürgerlichen Gesellschaft vermehren.

      Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fühlte sich, indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persönlich gefördert.

      Verschiedene

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