Alice. Lewis Carroll
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»Was für ein komisches Gefühl!« sagte Alice. »Ich gehe gewiss zu wie ein Teleskop.«
Und so war es in der Tat: jetzt war sie nur noch zehn Zoll hoch, und ihr Gesicht leuchtete bei dem Gedanken, dass sie nun die rechte Höhe habe, um durch die kleine Tür in den schönen Garten zu gehen. Doch erst wartete sie einige Minuten, ob sie noch mehr einschrumpfen werde. Sie war einigermaßen ängstlich; »denn es könnte damit aufhören,« sagte Alice zu sich selbst, »dass ich ganz ausginge, wie ein Licht. Mich wundert, wie ich dann aussähe?« Und sie versuchte sich vorzustellen, wie die Flamme 13 von einem Lichte aussieht, wenn das Licht ausgeblasen ist; aber sie konnte sich nicht erinnern, dies je gesehen zu haben.
Nach einer Weile, als sie merkte dass weiter nichts geschah, beschloss sie, gleich in den Garten zu gehen. Aber, arme Alice! als sie an die Tür kam, hatte sie das goldene Schlüsselchen vergessen. Sie ging nach dem Tische zurück, es zu holen, fand aber, dass sie es unmöglich erreichen konnte. Sie sah es ganz deutlich durch das Glas, und sie gab sich alle Mühe an einem der Tischfüße hinauf zu klettern, aber er war zu glatt; und als sie sich ganz müde gearbeitet hatte, setzte sich das arme, kleine Ding hin und weinte.
»Still, was nützt es so zu weinen!« sagte Alice ganz böse zu sich selbst; »ich rate dir, den Augenblick aufzuhören!« Sie gab sich oft sehr guten Rath (obgleich sie ihn selten befolgte), und manchmal schalt sie sich selbst so strenge, dass sie sich zum Weinen brachte; und einmal, erinnerte sie sich, hatte sie versucht sich eine Ohrfeige zu geben, weil sie im Croquet betrogen hatte, als sie gegen sich selbst spielte; denn dieses eigentümliche Kind stellte sehr gern zwei Personen vor. »Aber jetzt hilft es zu nichts,« dachte die arme Alice, »zu thun als ob ich zwei verschiedene Personen wäre. Ach! es ist ja kaum genug von mir übrig zu einer anständigen Person!«
Bald fiel ihr Auge auf eine kleine Glasbüchse, die unter dem Tische lag; sie öffnete sie und fand einen sehr kleinen Kuchen darin, auf welchem die Worte »Iss mich!« schön in kleinen Rosinen geschrieben standen. »Gut, ich will ihn essen,« sagte Alice, »und wenn ich davon größer werden, so kann ich den Schlüssel erreichen; wenn ich aber kleiner davon werde, so kann ich unter der Tür durchkriechen. So, auf jeden Fall, gelange ich in den Garten, – es ist mir einerlei wie.«
Sie aß ein Bisschen, und sagte neugierig zu sich selbst: »Aufwärts oder abwärts?« Dabei hielt sie die Hand prüfend auf ihren Kopf und war ganz erstaunt zu bemerken, dass sie dieselbe Größe behielt. Freilich geschieht dies gewöhnlich, wenn man Kuchen isst; aber Alice war schon so an wunderbare Dinge gewöhnt, dass 14 es ihr ganz langweilig schien, wenn das Leben so natürlich fortging.
Sie machte sich also daran, und verzehrte den Kuchen völlig.
Zweites Kapitel. Der Thränenpfuhl
»Verquerer und verquerer!« rief Alice. (Sie war so überrascht, dass sie im Augenblick ihre eigene Sprache ganz vergaß) »Jetzt werde ich auseinander geschoben wie das längste Teleskop das es je gab! Lebt wohl, Füße!«
(Denn als sie auf ihre Füße hinabsah, konnte sie sie kaum mehr zu Gesicht bekommen, so weit fort waren sie schon.) »O meine armen Füßchen! wer euch wohl nun Schuhe und Strümpfe anziehen wird, meine Besten? denn ich kann es unmöglich thun! Ich bin viel zu weit ab, um mich mit euch abzugeben! ihr müsst sehen, wie ihr fertig werdet. Aber gut muss ich zu ihnen sein,« dachte Alice, »sonst gehen sie vielleicht nicht, wohin ich gehen möchte. Lass mal sehen: ich will ihnen jeden Weihnachten ein Paar neue Stiefel schenken.«
Und sie dachte sich aus, wie sie das anfangen würde. »Sie müssen per Fracht gehen,« dachte sie; »wie drollig es sein wird, seinen eignen Füßen ein Geschenk zu schicken! und wie komisch die Adresse aussehen wird! –« 16
An
Alice's rechten Fuß, Wohlgeboren,
Fußteppich,
nicht weit vom Kamin,
(mit Alice's Grüßen).
»Oh, was für Unsinn ich schwatze!«
Gerade in dem Augenblick stieß sie mit dem Kopf an die Decke: sie war in der Tat über neun Fuß groß: Und sie nahm sogleich den kleinen goldenen Schlüssel auf und rannte nach der Gartentür.
Arme Alice! das Höchste was sie thun konnte war, auf der Seite liegend, mit einem Auge nach dem Garten hinunterzusehen; aber an Durchgehen war weniger als je zu denken. Sie setzte sich hin und fing wieder an zu weinen.
»Du solltest dich schämen,« sagte Alice, »solch großes Mädchen« (da hatte sie wohl recht) »noch so zu weinen! Höre gleich auf, sage ich dir!« Aber sie weinte trotzdem fort, und vergoss Tränen eimerweise, bis sich zuletzt ein großer Pfuhl um sie bildete, ungefähr vier Zoll tief und den halben Korridor lang.
Nach einem Weilchen hörte sie Schritte in der Entfernung und trocknete schnell ihre Tränen, um zu sehen wer es sei. Es war das weiße Kaninchen, das prachtvoll geputzt zurückkam, mit einem Paar weißen Handschuhen in einer Hand und einem Fächer in der andern. Es trippelte in großer Eile entlang vor sich hin redend: »Oh! die Herzogin, die Herzogin! die wird mal außer sich sein, wenn ich sie warten lasse!« Alice war so rathlos, dass sie Jeden um Hülfe angerufen hätte. Als das Kaninchen daher in ihre Nähe kam, fing sie mit leiser, schüchterner Stimme an: »Bitte, lieber Herr. –« Das Kaninchen fuhr zusammen, ließ die weißen Handschuhe und den Fächer fallen und lief davon in die Nacht hinein, so schnell es konnte.
Alice nahm den Fächer und die Handschuhe auf, und da der Gang sehr heiß war, fächelte sie sich, während sie so zu sich selbst sprach: »Wunderbar! – wie seltsam heute Alles ist! Und gestern war es ganz wie gewöhnlich. Ob ich wohl in der Nacht 17 umgewechselt worden bin? Lass mal sehen: war ich dieselbe, als ich heute früh aufstand? Es kommt mir fast vor, als hätte ich wie eine Veränderung in mir gefühlt. Aber wenn ich nicht dieselbe bin, dann ist die Frage: wer in aller Welt bin ich? Ja, das ist das Rätsel!« So ging sie in Gedanken alle Kinder ihres Alters durch, die sie kannte, um zu sehen, ob sie in eins davon verwandelt wäre.
»Ich bin sicherlich nicht Ida,« sagte sie, »denn die trägt lange Locken, und mein Haar ist gar nicht lockig; und bestimmt kann ich nicht Clara sein, denn ich weiß eine ganze Menge, und sie, oh! Sie weiß so sehr wenig! Außerdem, sie ist sie selbst, und ich 18 bin ich, und, o wie konfus es Alles ist! Ich will versuchen, ob ich noch Alles weiß, was ich sonst wusste. Lass sehen: vier mal fünf ist zwölf, und vier Mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – o weh! auf die Art komme ich nie bis zwanzig! Aber, das Einmaleins hat nicht so viel zu sagen; ich will Geografie nehmen. London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, ich wette, das ist Alles falsch! Ich muss in Clara verwandelt sein! Ich will doch einmal sehen, ob ich sagen kann: ›Bei einem Wirt –‹« und sie faltete die Hände, als ob sie ihrer Lehrerin hersagte, und fing an, aber ihre Stimme klang rau und ungewohnt, und die Worte kamen nicht wie sonst: –
»Bei einem Wirt, wunderwild,
Da war ich jüngst zu Gaste,
Ein Bienennest das war sein Schild
In einer braunen Tatze.
Es war der