Vulkanjäger. Катя Брандис
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Das Telefon klingelte. Es dauerte eine Weile, bis ich es gefunden hatte – ich hatte es vorhin auf mein Bett fallen lassen. „Bendert“, meldete ich mich und zurückkam ein gut gelauntes „Hier auch!“.
„Hi, Mama“, sagte ich und blickte auf die Anruferkennung, um festzustellen, ob sie vom Handy aus anrief oder aus dem Büro. Mama Büro, stand da. In diesem Moment wusste ich Bescheid und ein hohles Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus.
„Bei mir wird´s leider ein bisschen später, ich bin mit der Präsentation immer noch nicht fertig und die Geschäftsleitung sitzt mir im Nacken ...“
„Aha“, sagte ich so freundlich wie möglich. „Na, dann noch viel Erfolg und bis nachher.“
Ich nahm mir die Hälfte des Hühnchens und ein bisschen Salat, den Rest warf ich weg. War eh nicht so gut geworden, in der Eile hatte ich zu viel Kreuzkümmel ins Dressing getan. Meine Katze Lucky machte es sich auf meinem Schoß bequem, begann sofort zu schnurren und tat so, als interessiere sie das Huhn gar nicht. Ich schenkte ihr trotzdem ein Stück. Vor drei Jahren war mir Lucky in einer eiskalten Winternacht auf dem Bahnsteig einer S-Bahn-Station begegnet und fast einen Kilometer weit hinterhergelaufen. Wieso hatte sie ausgerechnet mich ausgesucht und keinen von den anderen Fahrgästen, obwohl auch andere sie gestreichelt hatten? Hatte sie gespürt, wie sehr ich Tiere mochte? Als Kind hatte ich mal eine junge Elster großgezogen, und wenn die Nachbarn einen Igel fanden, der Hilfe brauchte, brachten sie ihn direkt zu mir.
Während ich den letzten Rest Salat aß, informierte mich der 3-D-Screen über all das, was an diesem 4. Mai 2020 passiert war. Ehemaliger Ministerpräsident Italiens nach Herzinfarkt in seinem Pool ertrunken. Neuer Wasserkrieg zwischen Pakistan und Indien. Naturschützer verurteilen den neuen Trend, aus haltbar gemachten Blumen Kleidung herzustellen. Sämtliche Neuigkeiten rauschten an mir vorbei. Wieso hatte ich überhaupt versucht, sie zu überraschen? Das war total naiv. Jemand Schlaueres als ich hätte ihr heimlich einen wichtigen Dinner-Termin in den elektronischen Terminkalender eingetragen. Aber sobald sie gemerkt hätte, dass es nur ein Treffen mit mir ist ...
Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf den Bildschirm, ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. In Island war gerade mal wieder ein Vulkan ausgebrochen und bedrohte durch seine Aschewolke den Flugverkehr. Dunkelgrau wallte das Zeug nach oben. Sah ein klein bisschen aus wie der Rauch aus unserem Ofen, nur dicker.
Wie immer, wenn ich irgendetwas über Vulkane im Fernsehen sah, musste ich an meinen Vater denken. Ob er gerade dort war, in Island? Waren diese Filmaufnahmen von ihm?
Ich schrak auf, als das Telefon schon wieder klingelte. Vielleicht war das Noah, der wissen wollte, was passiert war und wann ich endlich zurückrief. Abwesend drückte ich auf den grünen Knopf und murmelte: „Ja?“
„Hier ist André. Bist du das, Jan?“
„Äh, ja“, stammelte ich verblüfft. Mein Vater! Zum ersten Mal seit zwei Monaten! Hatte er gespürt, dass ich an ihn dachte?
„Alles klar bei dir?“
„Ja“, sagte ich zum dritten Mal. Bis auf ein verbranntes Huhn und eine Mutter, die nicht aufgekreuzt ist. „Wo bist du gerade? In Island?“
Er lachte. „Nee, in München, ganz in eurer Nähe. Du meinst, wegen der Eruption? Die ist mir eine Nummer zu klein. Und weil die isländischen Vulkane oft unter Gletschern liegen, sieht man bei den Ausbrüchen sowieso fast nichts.“
„Aufnahmen von Aschewolken hast du wahrscheinlich schon genug, oder?“
„Yep. Dutzende.“
Es tat gut, mit ihm zu reden. So gut, dass ich auf einmal feuchte Augen hatte. Ich wischte mir schnell mit dem Ärmel drüber.
André war in München! Hieß das etwa, dass er Zeit hatte, mich zu sehen? Besser, nicht drauf zu hoffen. Wahrscheinlich ging schon morgen sein Flug nach Kolumbien, Japan oder wohin auch immer.
Doch so war es anscheinend nicht. „Kann ich am Wochenende mal bei euch vorbeikommen?“, fragte mein Vater. „Ich würde dich gerne sehen und habe einen Vorschlag, der dich vielleicht interessiert.“
„Einen Vorschlag?“, wiederholte ich, wahrscheinlich klang ich heute arg begriffsstutzig. Kurzer Blick in den geistigen Terminkalender. „Samstag haben wir noch nichts vor, glaub ich. Komm einfach am Nachmittag vorbei, wenn du magst.“ Ich sagte nicht, dass ich mich schon darauf freute. Nur für den Fall, dass es doch nicht klappte.
Aber es klappte tatsächlich.
Ein paar Tage später lehnte er lässig am Rahmen der Wohnzimmertür, die Daumen in die abgewetzte Jeans gehakt, die kurzen blonden Haare und der Dreitagebart schon ein bisschen grau. Wir sahen uns ähnlich, das gleiche sandfarbene Haar, die rauchgrauen Augen. Nur die Coolness hatte er mir nicht vererbt. Leider.
Meine Mutter begrüßte ihn deutlich freundlicher als ihre diversen Ex-Freunde, die hin und wieder vorbeischauten. Neugierig kam Lucky näher, um ihn abzuchecken, und strich um seine Beine. André beugte sich hinunter, um sie zu streicheln. „Hallo, Süße.“
„Das sagst du wirklich zu jedem weiblichen Wesen!“ Meine Mutter hob die Augenbrauen.
„Zu Jans Streifenhörnchen hab ich´s nicht gesagt“, meinte André schmunzelnd.
„Das ist leider letzten Monat gestorben“, informierte ich ihn.
„Hast du mir gar nicht geschrieben.“
Ich zuckte die Schultern. So richtig oft mailte ich ihm nicht, denn die meisten Nachrichten aus meinem Alltag waren nur begrenzt spannend, vor allem wenn man sie mit seinen Abenteuern verglich. Was sollte es ihn interessieren, dass Lucky zurzeit mit schrecklichem Erfolg Amseln jagte oder ich gestern mal wieder den Haushalts-Deppen gegeben und drei Ladungen Wäsche erledigt hatte? Dass ich um ein Haar von Frau Seidl beim Abschreiben erwischt worden wäre und mich mit meinen beiden Cousins zu einer LAN-Party getroffen hatte? Dass ich wohl nie Anna-Lia küssen würde, weil ich herausgefunden hatte, dass sie mit einem Typen aus ihrem Judo-Club zusammen war? Gähn.
Immerhin, von meinen Kanu-Touren hatte ich ihm geschrieben, schließlich stammte das alte, ramponierte Kanu von ihm – André hatte, als ich acht Jahre alt gewesen war, ein paar Monate bei uns gelebt und das Ding dagelassen, als er wieder auszog. Inzwischen hatte es ein paar Dellen und Aufkleber mehr. Manchmal paddelte ich mit Finn oder anderen Freunden los, aber auch oft allein, ich mochte die Stille und das Gefühl, dort auf dem Fluss ganz im Einklang mit mir selbst zu sein.
Mit Tellern und Tassen beladen wanderten wir raus auf die Terrasse.
„So, hier ist der Kuchen“, sagte meine Mutter und beförderte ungefragt ein Stück davon auf den Teller meines Vaters. Ich verzog das Gesicht – hatte sie vergessen, dass er nicht auf solchen Süßkram stand? Wahrscheinlich. Schließlich waren sie schon seit einer Ewigkeit getrennt.
André hatte meine Grimasse gesehen. Unsere Blicke trafen sich und wir tauschten ein kurzes, heimliches Lächeln. Erstaunlich – wir sahen uns selten, doch jedes Mal dauerte es nur ein paar Minuten, bis das Gefühl der Fremdheit verschwunden war.
Mein Stück Kuchen war schnell weg und ich nahm mir noch eins. Schlechte Angewohnheit von mir. Immer wenn ich nervös war, aß ich zu viel.
„Na, wie läuft´s so?“, fragte André mich.
„Er