In den Himmel tauchen. 5 Reisebloggerinnen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу In den Himmel tauchen - 5 Reisebloggerinnen страница 3
Um 7.30 Uhr kommen uns Gruppen auf ihrem Rückweg entgegen. Ich bin frustriert, all meine Motivation fließt dahin. Noch anderthalb Stunden prophezeit uns ein befreundeter Guide. Es werden die schlimmsten anderthalb Stunden. Das was mich die ganze Zeit am Gehen hielt, schiebt mich nicht mehr an – mein eigener Wille. Vor uns tut sich ein Feld mit Tiefschnee auf, das wir am Steilhang durchstapfen müssen. Plötzlich schaltet sich auch mein Körper aus. Ich kann meine Beine nicht mehr anheben. Lähmt mein Wille den Körper oder meine fehlende Kraft meinen Willen? Lars fragt, ob ich umkehren will. Ich will, 5500 Meter sind längst geschafft, der Sonnenaufgang hat ohne uns stattgefunden. José kommt meiner Antwort zuvor: «Anderthalb Stunden, das schaffst Du!». Ich höre mich sagen: «Das schaffe ich, aber ganz langsam!» Ich halte nach jedem dritten Schritt – schnaufe, kämpfe. Nach dieser Passage sehen wir einen weiteren steilen Gipfel. Ich bin am Ende.
Da klopft mir José auf die Schulter: «Das ist er.» Ich spüre meine Finger nicht mehr, durch zwei Schichten dicker Handschuhe hat sich der eisige Wind durchgearbeitet. Ich denke an das, was ich in unzähligen Foren las. An dieser Stelle geben viele auf. Ich sage José zum ersten Mal, was ich am Berg zig Male gedacht habe, was aber erst jetzt aus mir herauskommt: «Ich kann nicht mehr!» «Are you sure?», versichert er sich. Ja, natürlich bin ich mir sicher. Ich wollte keinen falschen Ehrgeiz haben und schlage mich nun schon seit knapp acht Stunden entgegen all meiner körperlichen Kräfte durch. Kalte Finger wollte José nicht als Umkehrgrund gelten lassen. Ich solle meine Hände kräftig gegen meine Beine schlagen. Zirka 60 Prozent Neigung – eine Stunde – come on! Noch einmal schiebe ich mir das dickflüssige, süße Zeug in den Mund. 100 Höhenmeter vom Ziel entfernt. Wir werden heute die Letzten auf dem Gipfel sein, doch das Wetter ist ok, auch für einen späten Abstieg. Das geht nicht immer. Langsam schießt das Blut wieder in meine Finger, mein Körper fühlt sich zum Zerbersten an. Ich trabe behutsam an.
Kurz vor neun Uhr erreichen wir den Gipfel. Ich werfe mich auf den Boden. «Ich will schlafen, ich will schlafen, ich will schlafen!» Quito befindet sich im Schatten der Wolken, die sich langsam um die Berge geschoben haben. Die Aussicht ist nicht mehr optimal. Mein Körper fühlt sich noch weniger optimal an. Ich spüre nichts, gar nichts, während Lars neben mir Tränen in den Augen hat. Ich starre in die Wolkendecke unter mir. Kurz vor unserem Abstieg laufe ich noch ein paar Schritte auf dem Gipfel. Irgendwo da drüben ist der Chimborazo, und dort der… Ich sehe nichts. Auf dem Weg nach unten fällt mir ein, dass ich doch eine Caldera hätte sehen müssen. Ich frage Lars, wo die denn war. Irgendwo in den Wolken, beruhigt mich Lars. Was zuvor zähe Stunden gebraucht hat, geht nun ganz fix. Zwar schmerzen die Zehen, doch wir rutschen und laufen in Windeseile den Gletscher hinunter. Steile Hänge sind zu passieren und tiefe Gletscherspalten zu überqueren.
Drei Stunden später, als wir den Fuß des Gletschers erreichen, der ein beliebtes Ziel für Tagestouristen ist, jubeln uns die Menschen zu, als seien wir Helden. Ich laufe mit Eisaxt und Stock wie ferngesteuert durch die Gruppen von Ausflüglern und versuche mit letzter Kraft zu lächeln und die Fragen zu beantworten. Ob wir wirklich oben gewesen seien? Wie es da ist? Wir geben geduldig und völlig entkräftet lauter kleine Interviews, während wir im tranceartigen Stolpergang das letzte Schotterstück passieren. Und dann kommt uns eine Busladung der ecuadorianischen Armee hechelnd entgegen. Fast jeder zückt sein Handy, will ein Foto mit uns machen. Es ist eine irreale Szenerie, in die ich mich hineinmontiert fühle. Noch einmal drehe ich mich um und schaue zum Gipfel. Plötzlich kehren die Gefühle zurück. Da oben war ich vor drei Stunden – ein kleiner Punkt im Eis, dem es jetzt ganz warm ums Herz wird. Erschöpft sinke ich auf die Rückbank unseres Autos. Das war der körperlich anstrengendste Kampf meines Lebens, und ich habe ihn fast verschlafen!
Holland: Verruchtes Amsterdam
Von Simone Gorosics, nach-holland.de
Wir fuhren im Sommer nie nach Holland an die Nordsee. Auch die obligatorische Klassenfahrt nach Amsterdam gab es bei mir nicht. Ich bin in Süddeutschland aufgewachsen, da fuhr man in den 80ern mit der Schule nach Prag oder Budapest. Zum einen standen die Länder des Ostblocks damals auf dem Lehrplan und zum anderen war es dort für uns natürlich unschlagbar günstig. Bei Bierpreisen von umgerechnet zehn Pfennig mussten wir mit 17 Jahren nicht lange nachdenken, wohin unsere Klassenfahrt gehen sollte. Bei meinem ersten Mal Holland war ich schon Mitte 20. Es war nur ein kurzer Stopp in Amsterdam, ein erstes Eintauchen in diese etwas verrufene Stadt. Ein bisschen schmuddelig war Amsterdam damals, noch schmuddeliger als heute. Wir schliefen in einem dieser Mehrbettzimmer mit metallenen Stockbetten und den metallenen Spinden mit quietschenden Türen fürs Gepäck. Seine Wertsachen ließ man dort nicht, die nahm man besser immer mit. Wie viele Betten es im Zimmer waren, kann ich nicht mehr sagen, aber es war ein ständiges Kommen und Gehen bei Nacht. Schrecken konnte uns das aber keinesfalls. Wir kamen gerade aus Mittelamerika zurück, Amsterdam war nur ein Zwischenstopp auf der Heimreise. Nach sechs Wochen Rucksack-Tour durch Honduras war diese Unterkunft schon beinahe Luxus. Es gab sogar eine heiße Dusche, was wollte man mehr.
Alles dort war cool. Coole Graffitis an der Wand. Coole Musik in der coolen Bar. Coole Typen mit Rastas, die sich einen Joint nach dem anderen anzündeten. Offiziell war das Kiffen im Hostel auch damals schon verboten. Trotzdem schlug einem dieser typische, etwas süßliche Geruch entgegen, wenn man die Eingangstür öffnete. Wahre Nebelbänke musste man durchkreuzen, bevor man in seinem Zimmer war. Mein Vater hatte mich gewarnt vor dieser Stadt. Überall Junkies gäbe es dort, die einen in eine Gracht werfen würden, nachdem sie einem das Geld gestohlen hätten. Junkies, die sich in dunklen Ecken einen Schuss setzten, gab es tatsächlich. Die große Säuberung der Innenstadt hatte noch nicht stattgefunden. Der Rest aber war maßlos übertrieben. Niemand wollte mich ausrauben und auch dem Wasser der Grachten kam ich nicht unfreiwillig zu nahe. Vermutlich war auch schon damals der Handel mit gestohlenen Fahrrädern die erste Wahl zur Finanzierung der Drogensucht. Viel ungefährlicher und auf Dauer vermutlich sogar lukrativer. Fahrräder gab es ja mehr als genug.
Es war kalt und neblig. Ich fror. Sowohl mein Körper als auch meine Garderobe waren noch auf Tropen eingestellt. Wir liefen durch die Gassen Amsterdams. Über unzählige Brücken, an den vielen Grachten in der Altstadt entlang. An jeder Ecke gab es einen Tattoo-Shop. Jede Menge Motivbücher blätterten wir dort durch. Rankende Armbänder, chinesische Schriftzeichen, flatternde Schmetterlinge. Heute bin ich sehr froh, dass ich mich damals für kein Motiv entscheiden konnte und untätowiert nach Hause fuhr. Im Haus gleich nebenan befand sich ein Piercingstudio. Vermutlich das erste seiner Art, das ich überhaupt sah. Ich Landei stand sprachlos vor den großen Farbfotos im Schaufenster und wunderte mich, was man wo überall durchstechen konnte. Phantomschmerzen machten sich bei diesem Anblick in meinem Körper breit, ich erinnere mich genau. Eine große Neigung zum Übertreten der Türschwelle verspürte ich nicht.
Auch sonst gab es für mich Wunderliches an jeder Ecke. Große Schaufenster in der Fußgängerzone mit Pornoheftchen und allerlei Spielzeug, die es in Deutschland nur unter dem Ladentisch gab und die mich etwas verlegen zurückließen. Die holländischen Mütter mit ihren Kindern, die daran vorbeiliefen, waren da schon abgebrühter. Dazu ein Sexmuseum, in dem sich Gruppen von kichernden Mädchen vor den Fotos drängten. Ein sich wiederholendes, lautstarkes, schon etwas hysterisch klingendes «Oh My God!» einer Amerikanerin hallte durch den Raum. Ganze Stadtviertel mit großen Fenstern, in denen Damen in Unterwäsche probierten, es sich auf einem Hocker bequem zu machen und dabei noch sexy