Humania. Walter Rupp
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Leider muss ich rückblickend darin einen folgenschweren Fehler sehen, dass ich nicht verhindert habe, zu meinen Gesprächen mit Herrn von Ranke auch die Gebrüder Grimm miteinzuladen. Ich hätte voraussehen müssen, dass das nicht gut gehen kann. Als Wilhelm und Jakob Grimm sich auf den Standpunkt stellten, die Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichten sei ein Unfug, der Wahrheitsgehalt in einer Legende sei nicht geringer als in einem historischen Ereignis, ja schließlich zu behaupten wagten, dass in Kinder- und Hausmärchen mehr Wahrheit enthalten sei als in einem geschichtlichen Bericht, verlor Herr von Ranke die Fassung und erklärte außer sich vor Wut, dass er nicht mehr bereit sei, sich mit Banausen zu unterhalten, und von da an den Umgang mit mir mied.
Die Geschichte wiederholt sich nie sofort, meist erst nach Jahrhunderten, und dann auf eine Weise, wie man sie nicht erwartet hätte!
Aus der Festrede des Präsidenten bei den ‘Freunden der Geschichte’
Regierungsform
Humania hat wie alle anderen Völker immer eine Regierung, auch wenn das Volk eine Regierung nicht verdient. Das Zusammenleben ist bei den Humaniern nach einer nicht in Gesetzen festgeschriebenen Hackordnung geregelt. Die eine laute Stimme haben, stehen obenan und bestimmen die Richtung. Die sehr viel Geld besitzen, werden zu allen wichtigen Beratungen herangezogen. Die ihre Ellenbogen gebrauchen können, dürfen ihre Schlüsselpositonen verteidigen, und alle Hochbegabten müssen sich streng unterordnen, damit sie nicht mit ihren unbequemen Gedanken Unruhe stiften und das friedliche Miteinander stören.
An der Spitze steht ein Präsident. Er muss eindringliche, zu Herzen gehende Reden halten und feierlich auftreten können. Während seiner Amtszeit lernt er, das Volk als sein Volk zu sehen und zu lieben. Da er nicht mitansehen möchte, wie sein Volk unglücklich wird, wehrt er sich gegen seine Abwahl. Seine Gattin stellt sich allen Wohltätigkeitsvereinen als Vorsitzende zu Verfügung und zieht bei der Verteilung der Spenden so sehr die Aufmerksamkeit auf sich, dass die Anwesenden von der Opferbereitschaft der Präsidentengattin beeindruckt sind und die Spender - ihrem Wunsch entsprechend - unbeachtet bleiben können.
Die Regierungsform ist eine demokratische. Alle reden gleichberechtigt mit, aber nur einer führt die Sache aus. Alle wählen zu ihrem Anführer den besten aller Kandidaten, obwohl sie sehr wohl wissen, dass es den Besten gar nicht gibt. Jeder fühlt sich jedem überlegen, behält es aber für sich. Während in autoritären Systemen immer nur derselbe Fehler wiederholt werden kann, macht die Demokratie es möglich, verschiedene Fehler zu multiplizieren.
Da Humania ganz auf dem Fundament der Freiheit errichtet wurde, darf der Staat nicht in die Schlafzimmer seiner Bürger blicken. Dieses Recht bleibt ausschließlich den Illustrierten und den Fernseh-Schmuddelkanälen vorbehalten, von denen es erstaunlich viele gibt. Sie berichten umfassend über alles, was Voyeure interessiert, und weit mehr als in Schlafzimmern passieren kann.
Der Gehorsam gilt im ganzen Land nicht viel. Jeder Bürger prüft bei jeder Anordnung sehr genau, ob sie wert ist, befolgt zu werden, und entschließt sich dann meist für den Protest, auch wenn noch unklar ist, wogegen er sich richtet. Es hat sich überall herumgesprochen, dass man mit Drohgebärden Parlamentarier dazu bringen kann, ihre Beschlüsse umzuwerfen. Über Ziel und Inhalt des Grundgesetzes und die Werte, die es schützt, konnte ich nicht viel erfahren. Denn es ist in Humania nicht üblich, sich dafür zu interessieren. Es wird als ungebührlich und aufdringlich empfunden, Fragen zu stellen, die nicht an der Oberfläche bleiben oder zu versuchen, den Kern einer Sache zu berühren.
Der Neandertaler wählte den zu seinem Anführer, der die Keule am besten zu schwingen verstand.
Die Philosophen der Antike empfahlen, denen die Regierungsgewalt zu übergeben, die sich durch Denkfähigkeit und Urteilskraft auszeichnen.
In den modernen Diktaturen hatte der die Macht, der die Feinde und das eigene Volk am besten einschüchtern konnte.
Die parlamentarischen Demokratien lassen jeden mitregieren, der eine laute Stimme hat.
Promotionsarbeit eines Studenten der Politologie
Das Wahlrecht
Im ersten Jahr meines Aufenthaltes in Humania erlebte ich, wie die Humanier, die bei kaum einem Anlass ihre Lethargie aufgeben, vor Wahlen von einer rätselhaften Nervosität ergriffen werden. Ein Wahlkampfstratege, der damit beauftragt wurde, die Wahlkämpfe der humanistischen Parteien zu organisieren und zu diesem Zweck die großen Schlachten der Weltkriege sehr genau studierte, machte mir in überzeugender Weise klar, dass man einen Kanzlerkandidaten wie einen Feldherrn als unbesiegbar darstellen muss. Das Image sei entscheidender als die Persönlichkeit. Man müsse an jede freie Wand Politikerköpfe kleben, die mit einem weit geöffneten Mund jedem Betrachter etwas ganz Persönliches zuflüstern und etwas versprechen, was nur er verstehen kann. Ein Wähler müsse denselben Kopf viele hundert Male gesehen haben, so dass er sich nicht nur im Wachzustand, sondern auch in seinen Träumen mit ihm befassen müsse und fähig sei, ihm gegenüber Sympathien zu empfinden.
Jeder Bürger ist dafür unendlich dankbar, dass der Gesetzgeber ihm das Recht einräumt, die Partei zu wählen, von der er sich am wenigsten abgestoßen fühlt, und dem Kandidaten seine Stimme zu geben, dem er am wenigsten misstraut. Es gibt ein Recht zu wählen, aber kein Recht, die Wahlversprechen einzufordern, damit die Regierung ihren Handlungsspielraum nicht verliert. Mit dem Wahlzettel gibt man seine Stimme ab und kann sie dann für viele Jahre nicht mehr gebrauchen. Es gibt immer mehrere Parteien, die um die Gunst der Wähler buhlen, und aus einer Unzufriedenheit heraus entstanden sind. Jede Partei versichert vor den Wahlen jedem Wähler, dass nur sie für einen denkenden und verantwortungsbewussten Bürger wählbar sei, und jeder Abgeordnete verspricht jedem Wähler, dass er alles tun wird, seine Interessen zu vertreten. Wenn er dann nach den Wahlen seine Interessen vertritt, sind seine Wähler maßlos verärgert und enttäuscht. Nach den Wahlen stellt sich das Volk die Frage, warum es überhaupt Wahlen gibt, wenn man mit Wahlen die Wahlprognosen doch nicht widerlegen kann.
Es gibt Volksparteien, die sich so nennen, weil sie damit zum Ausdruck bringen möchten, wie eng das Volk mit ihnen verbunden ist, und kleine Parteien, die mit hauchdünnen Minderheiten die Hauptlast beim Mitregieren tragen. Während die Regierungspartei dem Volk mehrmals täglich versichert, dass es eine außergewöhnlich gute Regierung hat, für die es keine Alternative gibt, wirft die Opposition der Regierungspartei so lange Unfähigkeit vor, bis sie selbst die Regierungsverantwortung übernehmen muss. Dann beweist auch sie auf die schnellste Weise, die ihr möglich ist, dass sie es nicht besser kann. Jede Partei ist eine freiheitliche, weil sie sich stets die Freiheit nimmt, das eigene Parteiprogramm auf verschiedene Weise auszulegen und Versprechungen jederzeit zurückzunehmen.
Alle Abgeordneten vertreten über die Grenzen der Partei hinaus die Meinung, dass sie für das allgemeine Wohl unentbehrlich sind. In der Überzeugung, dass nur zufriedene Abgeordnete ihre Wähler zufriedenstellen können, gestatten sie sich ansehnliche Diäten. Jeder Abgeordnete ist stolz, wenn es ihm gelingt, viele Wählerstimmen auf sich zu vereinigen, er bemüht sich aber nicht zu klären, ob er seine Stimmen von den nachdenklichen Wählern bekommen hat, oder ob ihm die Dummen nachgelaufen sind. Das Versprechen, es werde keine Steuererhöhungen geben, darf in Humania nicht als Absichtserklärung zur Sparsamkeit verstanden werden, sondern eher als beruhigende Ankündigung, man werde alles Erdenkliche tun, zusätzlich zu den Steuern neue Geldquellen zu erschließen.
Da die Partei der geistig unabhängigen, aber anständigen