Neu-Rosen im Paradiesgärtlein. Ulrike Blatter

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Neu-Rosen im Paradiesgärtlein - Ulrike Blatter

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      Wie von Rosen.

      Was ich liebe

      Fürchte ich

      Zu zerstören.

      Tanz der Apfelbäume

      Die Apfelbäume sich neigen

      Sie fassen sich an den Zweigen

      Sie beginnen sich zu bewegen

      Und Apfelblüten regnen

      Im Tanz

      Der Kreis

      schließt sich

      ganz.

      Verweile doch!

      Faust verkauft Mephisto seine Seele für den perfekten Augenblick – für diesen einen Moment, zu dem er sagen will: ‚Verweile doch, du bist so schön!‘

      Eine bekannte Luftfahrtlinie hat dieses Zitat zum Werbeslogan verballhornt: Alles für diesen Moment!

      Und der Gärtner? Auch der Gärtner verkauft seine Seele, indem er diesem einen Augenblick nachjagt – der Augen-Blick im wortwörtlichen Sinne, dieser eine Moment, in dem der Blick des Gärtners mit Wohlgefallen auf seinem Werk ruht und alles, bis ins letzte Detail ist stimmig und perfekt. Doch halt! Ein Bild, eine Skulptur, meinetwegen auch ein Streuselkuchen – all dies sind mit eigenen Händen – eigenhändig – geschaffene Werke. Oft sogar Kunstwerke – ganz besonders ein gelungener Streuselkuchen. Aber ein Garten? Mein Garten? Französische Schlossgärten kommen vielleicht der Idee des Gesamtkunstwerkes noch am nächsten: Diese streng durchkomponierten von Buchshecken begrenzten Anlagen, die, von oben betrachtet, bunten Perserteppichen gleichen. Ja, französische Gärten sind ein Werk des Gärtners. Nein, das Werk vieler Gärtner, denn um den unbändigen Wildwuchs lebensfroher Pflanzen dermaßen in Form zu bringen, bedarf es vieler Hände. Wahrscheinlich wird mein Garten nur deshalb nicht zu meinem Werk, weil ich nur zwei Hände habe? Immer wieder streifen meine unzufriedenen Blicke Abgestorbenes, Geknicktes, Verwelktes. Schimmel und Blattläuse machen sich breit, vom Unkraut erst gar nicht zu reden. Und immer, immer bin ich mit meinen Gedanken schon weit in der Zukunft. Das ist mein Sündenfall.

      An einer sonnendurchwärmten Stelle grüßen mich dicke Büschel ganz früher Schneeglöckchen, obwohl es nachts noch oft Frost gibt. Und ich? Grüße ich zurück? Ich streife dieses Wunder nur flüchtig. Mein Blick irrt durch die Zukunft und sucht Krokusse und Winterling. Das wäre doch ein schönes Bild, denke ich: Weiße Schneeglöckchen, lila Krokusse und die sattgelben Rasen der verwilderten Winterlinge. Doch meine Winterlinge verwildern nicht, sondern sind ausgesprochene Einzelkämpfer. Und die Krokusse zieren sich in diesem Jahr unglaublich. Zimperlich wagen sie sich erst dann hervor, wenn die Schneeglöckchen schon fast verblüht sind. Aber vier Wochen später reibe ich mir die Augen: Märzbecher und Anemonen sind auch ein schönes Paar, die zögerlichen Krokusse haben sich unterirdisch vermehrt und bilden dicke lilafarbene Kleckse, während die vereinzelt hervorleuchtenden Winterlinge ein optimistisches Gelb ins Bild tupfen – es sieht so ganz anders aus, als ich es mir vorstellte, aber, als ein Sonnenstrahl durch die Wolken bricht, die Farben kräftig aufleuchten und im Haselstrauch eine Amsel frühlingsselig zu glucksen beginnt – oh, Augenblick, wie bist du schön!

      Solch ein Moment scheint geschenkt. Zu schön, um wahr zu sein. Und ist doch eigentlich nichts Besonderes: ein wenig Sonne, Amselgesang und Blütenzauber. Es ist leicht das zu übersehen. Noch leichter es geringzuschätzen. Und ich klopfe den Lehm von den Gummistiefeln, fasse die Hacke wieder fester und wende mich ernsthafter Arbeit zu. Ich begebe mich wieder in die Zukunft. Wie wird dieses Stückchen Erde in vier Wochen aussehen, in zwei Monaten, nächstes Jahr? Was wird hier wachsen, was droht überwuchert zu werden, wo sind die Nester der Schnecken? Der Farbklang verstummt, die Wärme im Vogelgesang spüre ich nicht mehr, das Sonnenlicht verduftet. Sündenfall.

      Als Kind konnte ich einem einzelnen Grashalm beim Wachsen zuschauen, entdeckte den wimmelnden Mikrokosmos in einem Stückchen Wiese, kaum größer als meine Handfläche, lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch, drehte mich nach endlosen Minuten träge auf den Rücken. Ich spürte, wie mich die warme Erdkruste trug. Ich hörte das Zirpen der Grillen und das Fallen der Tautropfen. Ich roch den Blumenduft. Jede Jahreszeit schmeckte anders. Ich nahm wahr mit allen Sinnen. Ob ich das noch kann? Ich werfe mich auf den Boden. Keine Sommerwiese, sondern filziger, vom Winter zutiefst verschüchterter Rasen. Ich schließe die Augen. Der Winter krallt sich meinen Rücken. Ich werde mich erkälten, denke ich und die Amsel schluchzt melancholisch. Ich muss noch die Triebe des Schneeballs kontrollieren, denke ich; da sitzen immer so fiese kleine Würmchen drauf, die fressen Löcher in die Blätter und ein Windhauch kitzelt meine Nase und bringt einen Duft nach Erde und Wachstum mit. Ich denke, solange ich diesen Duft noch wahrnehmen kann, will ich nicht sterben und überlege, ob ich das in meine Patientenverfügung schreiben soll. Ein Sonnenstrahl streichelt meine Augenlider, wandert zu meinen Händen und ich seufze. Meine Vorderseite ist angenehm durchwärmt, während der Rücken im Wintergriff allmählich erstarrt. Ich rapple mich hoch und rücke meine schockgekühlte Hinterseite ins rechte Licht: Wie neu belichtet schweift mein Blick durch den Garten und ich merke: der Augenblick ist mein eigentliches Zuhause. Die Vergangenheit besteht nur aus Kellerregalen, vollgestopft mit Konserven, deren Haltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen ist. Und die Zukunft wirft mir Schatten entgegen, die sich meist als Trugbilder herausstellen, aber immer wieder das Jetzt verdunkeln, den einzigen Augenblick, in dem ich wirklich lebe – die einzige Heimstatt, die mir bleibt auf meiner Reise durch die Zeit.

      In der Musik erlebe ich solche Augenblicke, im Tanz, im Gebet – und im Garten. Sie sind kostbar. So kostbar, wie es eigentlich jeder Augenblick unseres Lebens ist. Wir vergessen das nur allzu oft, gehen in den Keller, öffnen Erinnerungskonserven und wundern uns über ihren faden Geschmack. Oder wir verlieren uns in einer Zukunft, die nichts anzubieten hat außer leeren Versprechungen und furchteinflößenden Schatten.

      Es ist eine hohe Kunst zu lernen, den Augenblick zu leben. Es gibt dafür kein Patentrezept. Man muss es immer wieder ausprobieren und darf auch neue Wege nicht scheuen. Kinder können es noch – wenn die Erwachsenen den Mut aufbringen, Kindern immer wieder einmal den Zumutungen der Langeweile auszusetzen. Wenn Kinder gelangweilt in flache Bildschirme starren, werden sie wenig Neues entdecken. Aber wenn Kinder gelangweilt aus Fenstern starren, werden sie den Blick zum Himmel wenden und eine neue Welt aus den Wolken erschaffen, sie werden hinausgehen und sich rücklings in eine Wiese fallen lassen (wenn die Großen es ihnen erlauben) oder schließlich den Blick nach innen wenden und die verwirrende Vielfalt der eigenen Seele entdecken. Wenn wir ganz viel Glück haben, dann werden gelangweilte Kinder vielleicht sogar einmal freiwillig einen Blick in ein Buch werfen – aber das ist eine ganz andere Geschichte. Jedenfalls ist es ein großer Fehler, Kinder zu Tode zu bespaßen – und das meine ich wörtlich: wenn die Wahrnehmung des Augenblickes stirbt, dann stirbt das Leben.

       Um den Augenblick zu leben, braucht es Achtsamkeit in seiner doppelten Bedeutung: auf etwas achten, im Sinne einer verbesserten Wahrnehmung. Es heißt aber auch: etwas achten, ihm Achtung entgegenbringen. Wir nennen das auch Wertschätzung. Also sehe ich nicht nur die verwelkten Tulpenstängel, die, ohne Blütenkrone, wahrhaftig keine Zierde sind. Ich weiß, dass ich sie stehenlassen muss, damit die Zwiebel im Boden neue Kraft schöpfen kann. Ich wende meinen Blick zu Pfingstrose und Blaukissen, übersehe bewusst die welken Tulpenstängel – auch dies eine Form der gelenkten Achtsamkeit. Einige Wochen später finde ich kantige Samenkapseln auf holzigen Stängeln. Jetzt wäre es an der Zeit die alten Tulpenreste wegzuräumen, auch die Samenkapseln sind für die Pflanze nur unnötiger Ballast. Aber ich lasse sie stehen. Sie gefallen mir. Oh, Augenblick …

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