Mein Arbeitszeugnis. Rolf Summermatter
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„Ja, hier ist eines: Sie zeigte sich den Belastungen gewachsen.“
Cornelia fügte mit einem Lächeln an: „Jetzt habe ich verstanden: Hier fehlt jede Beschreibung der Qualität und ich würde es in die Richtung interpretieren, dass diese Mitarbeiterin nicht besonders gut war.“
„Gratuliere!“, sagte Roland lachend.
Cornelias Wissensdrang war nun vollends erwacht. „Wir haben jetzt einzelne Sätze angeschaut und waren auf einen Satz, eine Aussage konzentriert. Erkenne ich dasselbe, wenn ich das ganze Zeugnis vor mir habe?"
"Darin liegt oft die Schwierigkeit. Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Genauer gesagt ist nicht immer alles gut, was toll klingt. Es gibt allerdings Möglichkeiten, das zu erkennen.“
„Und welche?“, platzte Reto heraus.
6 Kritisches Lesen des Zeugnisses
„Eine Möglichkeit ist, das Zeugnis aus der Vogelperspektive zu lesen. Ich versuche dabei, mein Zeugnis mit fremden Augen anzuschauen. Dazu lese ich es mir laut und langsam vor. Ich beobachte mich, bei welchen Sätzen ich stolpere und meine Gedanken etwas anderes als das, was dann wirklich folgt, erwarten.“
Cornelia rief dazwischen: „Das verstehe ich nicht!“
„Nun gut, ich gebe dir ein Beispiel: Er arbeitete zu unserer Zufriedenheit. In Gedanken frage ich mich: ‚Mehr nicht?‘ Noch ein Beispiel: Er erkannte Probleme in seinem Arbeitsumfeld und leistete seinen Beitrag zur Lösung. Wie hoch war nun sein Beitrag? Ging er die Probleme aktiv an? Für mich als Leser ist es ein negativer Satz. Möchtet ihr noch ein weiteres Beispiel?
Beide nickten.
„Die Zusammenarbeit verlief ohne Beanstandung. Hier gehen meine Gedanken in die folgende Richtung: ‚Ja, wie ist sie denn verlaufen, diese Zusammenarbeit?‘ Ich kann mich hier auch fragen, wieso wird eine Negativformulierung benutzt? Auf solche sollte ich im Arbeitszeugnis grundsätzlich verzichten. Wir können diese Aussage dahingehend interpretieren, dass diese Zusammenarbeit nicht sehr angenehmen war. Wenn es mir, wie bereits erwähnt, gelingt, diese Sätze so zu lesen, entdecke ich solche Ungereimtheiten.“
„Und ich interpretiere sie dahingehend, dass er oder sie nichts geleistet haben“, bemerkte Cornelia nicht ohne Stolz.
„Darauf stossen wir an“, sagte Reto augenzwinkernd und verteilte die bereits gefüllten Gläser.
„Sehr zum Wohle! Erkennt ihr, wie schnell wir unklare Aussagen interpretieren können?“
Die gefüllten Kristallgläser klangen beim Anstossen herrlich.
„Noch eine abschliessende Bemerkung oder, genauer gesagt, ein Tipp zu diesem Thema: Ich kann mein Arbeitszeugnis von einer Drittperson lesen lassen. Selbstverständlich nach dem gleichen Prinzip, wie eben erklärt.“
„Aber sprich weiter. Mich fesselt, was du uns erzählst“, drängte Cornelia auf eine Fortsetzung des Gesprächs.
7 Vollständigkeit
„Wir sind beim Lesen des eigenen Arbeitszeugnisses mit fremden Augen stehengeblieben. In dieses Kapitel gehört ebenfalls die Frage der Vollständigkeit. Wird das Zeugnis als Arbeitszeugnis oder Zwischenzeugnis bezeichnet? Ist eine eindeutige Identifikation möglich? Sind also Namen, Geburtsdatum, Heimatort oder Nationalität angegeben? Sind die Dauer des Arbeitsverhältnisses, der Beschäftigungsgrad und die ausgeführte Funktion genannt? Sind die wahrgenommenen, bei vielen verschiedenen Aufgaben vor allem die wichtigsten, beschrieben? Dazu gehören allfällige Beförderungen und Weiterbildungen. Sind Aussagen über die Leistung und das Verhalten sowie den Austritt, eventuell mit Begründung, vorhanden? Wurde ein Schlusssatz formuliert? Soll ich euch dazu eine Methode, wie ihr ein Arbeitszeugnis sozusagen röntgen könnt, mitgeben?“
Beide nickten stumm. Sie sahen Roland an, dass er nun in seinem Element war.
„Also, hier ist sie: Ihr braucht vier verschiedenfarbige Leuchtstifte und schon kann es losgehen. Ihr beginnt damit, mit der ersten Farbe alle Forminhalte wie Titel, Namen und so weiter anzustreichen. Dazu verwende ich immer den gelben Leuchtstift. Damit überprüft ihr, ob alles vorhanden ist, was vorhanden sein sollte, wie ich es euch eben beschrieben habe. Mit einer anderen Farbe, bei mir ist sie immer blau, hebt ihr den Teil der ausgeführten Tätigkeiten hervor und vergleicht diese Angaben mit eurem Aufgaben- respektive Stellenbeschrieb. Zusätzlich vergleicht ihr diese Angaben mit den tatsächlich von euch ausgeführten Tätigkeiten.“
Tipp: Überprüfen Sie Ihr Arbeitszeugnis auf Vollständigkeit!
Titel „Arbeitszeugnis“/„Zwischenzeugnis“
Identifikation der beschriebenen Person
Bezeichnung der Stelle
Anstellungsbeginn und evtl. Schlussdatum (bei Schlusszeugnissen)
ausgeführte Tätigkeiten
Leistung
Arbeitsverhalten
Verhalten (soziale Kompetenzen)
Hinweis auf Kündigung/Auflösung (bei Schlusszeugnissen)
Schlusssatz und Austrittsdatum
„Ja, ist das denn nicht dasselbe, Aufgabenbeschrieb und ausgeführte Tätigkeiten?“, wollte Reto wissen.
„Im Prinzip ja, aber Kontrolle ist besser. Das heisst, ihr überprüft die Angaben aus dem Aufgabenbeschrieb mit euren tatsächlich ausgeführten Tätigkeiten. In den meisten Fällen stimmt es in etwa überein. Aber ich habe schon Fälle erlebt, da haben sich die Tätigkeiten im Laufe der Zeit gewandelt und der Aufgabenbeschrieb wurde nie angepasst.
Mit der dritten Farbe, bei mir jeweils rosa, streicht ihr alle Leistungsmerkmale an. Die vierte Farbe zeigt euch alle Verhaltensmerkmale. Bei mir übrigens immer grün. Somit könnt ihr auf einen Blick erkennen, wie das Arbeitszeugnis gegliedert ist, welchen Anteil jeder Themenbereich am Ganzen hat und in welchem Verhältnis die Leistung und das Verhalten zum gesamten Zeugnis stehen.“
„Gibt es eine Art ‚Verteilschlüssel‘ zwischen diesen vier Teilen?“
„Nicht wirklich. Und doch, wenn die Leistung und das Verhalten im gesamten Arbeitszeugnis untergehen, dann lohnt es sich, das genau anzuschauen. Je weniger über Leistung und Verhalten steht, desto mehr läuten bei mir die Alarmglocken. Es stellt sich mir die Frage, was hier nicht stimmt. Wenn ich das rechtzeitig erkenne, kann ich noch korrigierend einwirken.“