Marie Antionette. Stefan Zweig
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In diesem Stundenplan bleibt für Amüsements nicht viel Raum, gerade danach aber verlangt ihr ungeduldiges Herz. Das jugendlich moussierende Blut in ihr möchte sich noch austollen, sie möchte spielen, lachen, Unfug treiben, aber sofort hebt dann »Madame Etikette« den strengen Finger und mahnt, dies und jenes und eigentlich alles, was Marie Antoinette wolle, sei unmöglich vereinbar mit der Stellung einer Dauphine. Noch schlimmer trifft es der Abbé Vermond mit ihr, der einstige Lehrer, jetzt ihr Beichtvater und Vorleser. Eigentlich hätte Marie Antoinette noch furchtbar viel zu lernen, denn ihre Bildung steht tief unter dem Durchschnitt: mit fünfzehn Jahren hat sie ihr Deutsch schon ziemlich vergessen, das Französische noch nicht völlig erlernt, ihre Schrift ist jämmerlich ungelenk, ihr Stil strotzt von Unmöglichkeiten und orthographischen Fehlern; noch immer muß sie sich die Briefe vom hilfreichen Abbé aufsetzen lassen. Außerdem soll er ihr täglich eine Stunde vorlesen und sie selbst zum Lesen zwingen, denn Maria Theresia fragt fast in jedem Brief nach der Lektüre. Sie glaubt nicht recht dem Bericht, daß ihre Toinette wirklich jeden Nachmittag liest oder schreibt. »Such Dir doch den Kopf mit guter Lektüre auszutapezieren,« mahnt sie, »sie ist für Dich notwendiger als für jeden anderen. Ich warte seit zwei Monaten auf die Liste des Abbé und fürchte, Du hast Dich damit nicht befaßt, und die Esel und Pferde haben die für die Bücher bestimmte Zeit weggetragen. Vernachlässige jetzt im Winter diese Beschäftigung nicht, da Du doch keine andere recht beherrschst, weder Musik noch Zeichnen, Tanz, Malerei oder andere schöne Wissenschaften.« Leider hat Maria Theresia mit ihrem Mißtrauen recht, denn mit einer gleichzeitig naiven und geschickten Art weiß die kleine Toinette den Abbé Vermond – man kann doch eine Dauphine nicht zwingen oder strafen! – so völlig zu umgarnen, daß die Lesestunde immer zur Plauderstunde wird; sie lernt wenig oder nichts und ist durch kein Drängen der Mutter mehr zu einer ernsten Beschäftigung zu bringen. Eine gerade, eine gesunde Entwicklung ist durch die zu früh erzwungene Ehe gestört. Dem Titel nach Frau, in Wirklichkeit noch Kind, soll Marie Antoinette bereits Würde und Rang majestätisch vertreten, anderseits noch auf der Schulbank die untersten Kenntnisse einer Volksschulbildung nachlernen; bald behandelt man sie als große Dame, bald wird sie gerüffelt wie ein kleines unmündiges Kind; die Hofdame verlangt von ihr Repräsentation, die Tanten Intrigen, die Mutter Bildung; ihr junges Herz aber will nichts, als leben und jung sein, und in diesen Widersprüchen des Alters und der Stellung, des eigenen Willens und jenes der andern entsteht in diesem sonst durchaus gerade gewachsenen Charakter jene unbändige Unruhe und Ungeduld nach Freiheit, die später Marie Antoinettes Schicksal so verhängnisvoll bestimmt.
Um diese gefährliche und gefährdete Stellung ihrer Tochter an dem fremden Hofe weiß Maria Theresia Bescheid, sie weiß auch, daß dieses viel zu junge, unernste und flatterige Geschöpf nie imstande sein wird, aus eigenem Instinkt alle die Fuchsfallen der Intrigen und Fallstricke der Palast-Politik zu umgehen. So hat sie ihr den besten Mann, den sie unter ihren Diplomaten besitzt, den Grafen Mercy, als getreuen Eckart beigegeben. »Ich fürchte«, hatte sie ihm mit wunderbarer Offenheit geschrieben, »das Übermaß an Jugend bei meiner Tochter, das Zuviel an Schmeichelei um sie, ihre Trägheit und ihren mangelnden Sinn für ernste Tätigkeit, und ich beauftrage Sie, da ich Ihnen ganz vertraue, darüber zu wachen, daß sie nicht in schlechte Hände gerate.« Die Kaiserin hätte keine bessere Wahl treffen können. Geborener Belgier, aber ganz der Monarchin ergeben, ein Mensch von Hof, aber kein Höfling, kühl denkend, aber darum nicht kalt, klarsinnig, wenn auch nicht genial, übernimmt dieser reiche, unehrgeizige Junggeselle, der nichts anderes im Leben will, als seiner Monarchin vollendet dienen, diesen Schutzposten mit allem erdenklichen Takt und rührender Treue. Scheinbar der Botschafter der Kaiserin am Hofe von Versailles, ist er in Wahrheit nur das Auge, das Ohr, die hilfreiche Hand der Mutter: wie durch ein Fernrohr kann, dank seiner genauen Berichte, Maria Theresia von Schönbrunn aus ihre Tochter beobachten. Sie weiß jedes Wort, das sie spricht, jedes Buch, das sie liest oder vielmehr nicht liest, sie kennt jedes Kleid, das sie anzieht, sie erfährt, wie Marie Antoinette jeden Tag verbringt oder vertut, mit welchen Menschen sie spricht, welche Fehler sie begeht, denn Mercy hat mit großer Geschicklichkeit das Netz um seinen Schützling ganz eng gezogen. »Ich habe mich dreier Personen aus dem Dienstpersonal der Erzherzogin versichert, ich lasse sie Tag für Tag durch Vermond beobachten, und ich weiß von der Marquise Durfort bis auf das letzte Wort, was sie mit ihren Tanten plaudert. Ich habe noch mehr Mittel und Wege, um zu erfahren, was sich beim König ereignet, wenn die Dauphine sich dort befindet. Dazu füge ich noch meine eigenen Beobachtungen, so daß es keine einzige Stunde des Tages gibt, von der ich nicht Rechnung legen könnte, was sie getan, gesagt oder gehört hat. Und ich dehne meine Nachforschungen immer nur so weit aus, als zur Beruhigung Eurer Majestät notwendig ist.« Was er hört und erspäht, berichtet dieser treuredliche Diener in völlig schonungsloser Wahrhaftigkeit. Besondere Kuriere übermitteln, weil der gegenseitige Postdiebstahl damals die Hauptkunst der Diplomatie darstellte, diese intimen, ausschließlich für Maria Theresia bestimmten Berichte, die dank verschlossener Umschläge mit der Aufschrift »tibi soli« nicht einmal dem Staatskanzler und Kaiser Joseph zugänglich sind. Manchmal allerdings wundert sich die arglose Marie Antoinette, wie rasch und genau man in Schönbrunn über jede Einzelheit ihres Lebens unterrichtet ist, aber nie ahnt sie, daß jener grauhaarige väterlich freundliche Herr der intime Spion ihrer Mutter ist und daß die mahnenden, geheimnisvoll allwissenden Briefe ihrer Mutter von Mercy selbst erbeten und abgestimmt sind. Denn Mercy hat kein anderes Mittel, um das unbändige Mädchen zu beeinflussen, als die mütterliche Autorität. Als Botschafter eines fremden, wenn auch befreundeten Hofes, ist es ihm nicht erlaubt, einer Thronfolgerin moralische Verhaltungsmaßregeln zu erteilen, er darf sich nicht anmaßen, die zukünftige Königin von Frankreich erziehen oder beeinflussen zu wollen. So bestellt er immer, wenn er etwas erreichen will, einen jener liebevoll strengen Briefe, die Marie Antoinette mit Herzklopfen empfängt und öffnet. Niemandem auf Erden sonst Untertan, hat dieses unernste Kind doch eine heilige Scheu, wenn sie die Stimme der Mutter – und sei es nur im geschriebenen Wort – vernimmt; ehrfürchtig beugt sie auch vor dem härtesten Tadel das Haupt.
Dank dieser unablässigen Überwachung ist Marie Antoinette die ersten Jahre vor der äußersten Gefahr bewahrt: vor ihrem eigenen Übermaß. Ein anderer, ein stärkerer Geist, die große und weitblickende Intelligenz ihrer Mutter denkt für sie, ein entschlossener Ernst wacht über ihre Leichtfertigkeit. Und was die Kaiserin an Marie Antoinette verschuldet, indem sie zu früh dieses junge Leben der Staatsräson hinopferte, sucht die Mutter mit tausend Sorgen wieder zurückzukaufen.
Gutmütig, herzlich und gedankenfaul hat Marie Antoinette, das Kind, eigentlich gegen alle diese Leute um sie herum keine Antipathie. Sie mag den angeheirateten Großpapa Ludwig XV., der sie freundlich tätschelt, recht gern, sie verträgt sich leidlich mit den alten Jungfern und der »Madame Etikette«, sie hegt Vertrauen zu dem guten Beichtiger Vermond und eine kindlich respektvolle Neigung für den stillen freundlichen Freund ihrer Mutter, den Botschafter Mercy. Aber doch, aber doch, alle die sind alte Leute, alle ernst, gemessen, feierlich, gravitätisch, und sie, die Fünfzehnjährige, möchte gern mit jemand unbefangen befreundet, heiter und zutraulich sein; Spielkameraden möchte sie und nicht nur Lehrer, Aufpasser und Zurechtweiser; ihre Jugend dürstet nach Jugend. Aber mit wem hier heiter sein in diesem grausam feierlichen Haus aus kaltem Marmor, mit wem hier spielen? Der rechte Spielkamerad dem Alter nach wäre ihr eigentlich zugesellt, der eigene Gatte, bloß um ein einziges Jahr älter als sie. Aber muffig, verlegen, und aus Verlegenheit oft sogar grob, weicht dieser linkische Geselle jeder Vertraulichkeit mit seiner jungen Frau aus; auch er hat nie das mindeste Verlangen gezeigt, so früh verheiratet zu werden, und es braucht gute Zeit, bis er sich überhaupt entschließt, mit diesem fremden Mädchen halbwegs höflich