Nesthäkchen im weißen Haar. Else Ury

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Nesthäkchen im weißen Haar - Else Ury

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amerikanischem Wesen und heimischen Sitten entfremdete, daß sie in Deutschland Wurzel schlug. Und die Mutter? Nun, eine Mutter leidet stets, wenn sie eins ihrer Kinder entbehren muß. Trotzdem war sie es, die als Fürsprecherin für die Tochter eingetreten. Marietta war im Kern ihres Wesens deutsch, das wußte sie am besten.

      An dem Gitter des großväterlichen Gartens war Marietta stehengeblieben. Dort lag das liebe Rosenhaus, jetzt seines schönsten Schmuckes entkleidet. Die Kletterrosen, die es umrankten, hatten abgeblüht. Nur hier und da auf dem großen Rasenrondell, das von Großpapas Edelrosen umsäumt wurde, hatte der warme Oktobersonnenschein noch eine Spätrose hervorgelockt. Aber die Astern und Georginen blühten dafür in übermütigster Buntheit, als wüßten sie es nicht, daß sie die letzten Grüße des scheidenden Sommers bedeuteten. In flimmerndem Goldkleid stand die Linde da – Marietta mußte an das Bäumlein denken, das andere Blätter hat gewollt. Die Großmama hatte ihr und Anita vor Jahren das Gedicht vorgelesen, damals, als sie aus Brasilien herübergekommen. Die ganze Poesie der deutschen Märchen hatte die Großmama über die aufhorchenden Kinder ausgeschüttet. Was hatte sie ihr nicht gegeben, die liebe Großmama? Alles, was schön und wertvoll in ihrem Mädchenleben gewesen, war ihr von dort gekommen. Durfte sie immer nur nehmen, mußte sie nicht auch zurückgeben?

      O ja, sie wußte es, daß sie den alternden Großeltern zum Sonnenschein geworden war, der ihr Haus erhellte und erwärmte. Daß sie selbst wieder jung wurden in dem Bestreben, mit der jungen Enkelin Schritt zu halten, ihr auf all den Wegen, die eine neue Zeit erschloß, zu folgen. Und das alles wollte sie ihnen entziehen? Noch waren sie rüstig, die lieben beiden, die Großmama bei weitem mehr als der Großpapa. Aber wie der Herbst dort die Blätter von der Linde streifte, so würden auch sie mehr und mehr entblättern, ihre Kräfte allmählich hinschwinden fühlen. Es war der Lauf der Natur. Und dann wollte sie die Großeltern treulos im Stich lassen als Lohn für all ihre Liebe? Im fernen Lande fremden Menschen helfen, während ihr Herz hier in Deutschland bei den Großeltern fest verankert war?

      Wer sagte ihr, wo ihre Pflicht lag?

      2. Kapitel

      Am Scheidewege

      Großmama und Großpapa hielten ihr Nachmittagsschläfchen. Der alte Geheimrat auf dem Sofa, Frau Annemarie daneben in dem bequemen Ledersessel, wie sie es nun schon seit Jahren gewöhnt waren. Die Zeitung war der geäderten Hand des Schlafenden entfallen. Seine tiefen Atemzüge mischten sich mit dem Summen einer respektlosen Fliege.

      Frau Annemarie schlief nicht. Sie blickte von der Uhr drüben an der Wand unruhig zum Fenster, das die schon schrägen Sonnenstrahlen einfing. Wo das Kind nur blieb? Mußte es nicht längst hier sein? Eine halbe Stunde Fahrt, der Weg zum Bahnhof und das letzte Stück hier draußen – wieder befragte sie mit angstvollen Augen die Uhr. Nein, wirklich, um eine halbe Stunde hatte sie sich verspätet. Wenn da nur nichts passiert war. Man las jetzt so viel von Unglücksfällen. Gut, daß ihr Mann schlief und nichts von ihrer Unruhe merkte. Rudi würde sie auslachen wie stets, wenn sie um Mariettas Ausbleiben sorgte. »Binde doch das Mädel an dein Schürzenband fest, daß es dir nicht entlaufen kann. Seitdem die Frau auf die Siebzig lossteuert, wird sie immer wunderlicher.« Trotzdem Frau Annemarie knapp die Mitte der Sechziger überschritten hatte, pflegte ihr Mann sie damit aufzuziehen. Das heißt, wenn er guter Laune war. Dies war jetzt durchaus nicht immer der Fall. Frau Annemaries Blick wanderte von der unaufhaltsam weiter tickenden Uhr zu dem Gesicht des Schlafenden. Sie konnte es sich nicht verhehlen, daß er stark gealtert war seit der schweren Krankheit damals vor fünf Jahren. Die Stirn reichte fast bis zum Hinterkopf. Jahre verantwortungsvoller Arbeit hatten Falten und Fältchen um Augen und Mund eingegraben. Und immer noch gab es keinen Feierabend für den gewissenhaften Arzt. Wenn auch die Praxis allmählich abbröckelte, an Jüngere überging, der Stamm seiner Patienten war dem alten Geheimrat Hartenstein treu geblieben. Ja, es gab viele, die sich in der chirurgischen Klinik, der er noch immer vorstand, lieber den altbewährten Händen anvertrauten als den jüngeren seiner Assistenten. Wenn nur die Augen mit seiner Willenskraft gleichen Schritt gehalten hätten. Aber die ließen seit geraumer Zeit nach und machten Frau Annemarie fast noch größere Sorgen als ihrem Manne selbst. Augenblicklich aber war es die Enkelin, die all ihre Gedanken in Anspruch nahm. Denn irgend etwas zum Sorgen mußte sie immer haben, sonst wäre ihr nicht wohl, behauptete ihr Mann. Es ging auf drei – – was mochte Marietta nur passiert sein?

      Geräuschlos erhob sich die alte Dame. Ganz so leichtfüßig wie früher war sie auch nicht mehr. Das linke Bein streikte, besonders wenn sie eine Weile gesessen hatte, dann mußte es erst wieder in Gang kommen. Ja, ja, man wurde eben nicht jünger. Behutsam, um den Schlafenden nicht zu wecken, begab sich Frau Annemarie zum Fenster. Und als ob sie die Enkelin mit der Kraft ihrer Gedanken magnetisch herbeigezogen hätte, ging da gerade die Gartentür. All der Sonnenglanz, den das Fenster einließ, schien sich in den noch heute leuchtend blauen Augen der alten Frau zu spiegeln.

      »Da ist es, unser Kind. Ich hab's ja gewußt, daß es nichts weiter auf sich haben würde.« Obgleich sie eigentlich gerade das Gegenteil angenommen hatte. Viel hätte nicht gefehlt, dann hätte Frau Annemarie temperamentvoll gegen die Scheibe geklopft, um der heimkehrenden einen Gruß zuzuwinken. Aber fünfundvierzig Ehejahre hatten sie doch zu gut erzogen. Der Schlaf ihres Mannes war ihr heilig. Warum schaute das Kind denn gar nicht auf? Es ging so in Gedanken verloren, als habe es Gott weiß was für schwere Rätsel zu lösen. War es von seiner neuen Tätigkeit nicht befriedigt?

      Das steife Knie der Großmama mußte mit, ob es wollte oder nicht. Vorsichtig zur Tür – ihr Mann rührte sich nicht. So – nun war sie draußen. Ob Frau Trudchen auch alles für Marietta recht heiß gehalten hatte?

      Sie steckte den Kopf zur Küche hinein, wo Frau Trudchen, die getreue Schaffnerin des geheimrätlichen Hauses, die dampfende Suppe auffüllte, während ihre Adoptivtochter, die dreizehnjährige Lotte, bereits mit dem Tablett darauf wartete.

      »Nun, Trudchen, alles in Ordnung? Ist auch die Soße inzwischen nicht zu sehr eingepruzzelt? Vergessen Sie nicht, das Ei zum Spinat zu kochen. Unser Kind sieht blaß aus. Wir müssen es ein bißchen pflegen.«

      »Mein Jott, nu hat Frau Jeheimrat schon wieder keine Ruhe nich jehabt. Als ob Lotteken und ich Fräulein Marietta nich jut versorgen täten. Frau Jeheimrat is doch kein Jüngling mehr und braucht ihr Nachmittagsschläfchen wie jeder bejahrte Jreis.« Wirklich, Frau Trudchen, die allzeit treu sorgende, war recht unzufrieden mit ihrer Herrin.

      Die klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Nanu, was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen, Trudchen? Ein Jüngling bin ich mein Lebtag nicht gewesen, und ein bejahrter Greis werde ich auch niemals sein.« Sie lachte herzlich, daß es auch über das breite Gesicht der Dienerin wie Sonnenleuchten durch gewitterschwere Wolken ging. Lottchen aber stimmte so belustigt in das Lachen der alten Dame ein, daß auch die Suppe in dem Teller ausgelassen über den Rand schwippte. So ansteckend wirkte Frau Annemaries Lachen noch immer.

      »Na, da haben wir's ja, Lotteken, kannste dich nich 'n bißchen vorsehen. Und Frau Jeheimrat braucht auch jar nich so zu lachen, wenn man's jut mit ihr meinen tut«, ereiferte sich Frau Trudchen.

      »Das weiß ich ja, daß das Krakeelen nur auswendig ist, Trudchen. So, Lottchen, nun trage die Suppe rein. Ei, da bist du ja, mein Seelchen. Es ist recht spät geworden.« Die letzten Worte waren an Marietta gerichtet, die in diesem Augenblick auf der zum oberen Stockwerk führenden Treppe auftauchte. Sie hatte oben ihr Stübchen, dasselbe, das ihre Mutter einst bewohnt, wo sie inzwischen abgelegt und sich gewaschen hatte.

      »Großmuttchen, du nicht in deinem Lehnsessel? Das ist aber unrecht, daß du mir deinen Nachmittagsschlaf opferst. Das darfst du nie wieder tun. Versprich es mir.« Liebevoll zog Marietta den Arm der Großmama durch den ihrigen und betrat mit ihr das Speisezimmer, wo Lotte und die Suppe schon auf sie warteten.

      »Fängst

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