Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
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Aus Furcht und Nervosität vergaß ich viel, z. B. Zählpfennige für die Rechenstunde; die Griffel quietschten auf der Schiefertafel, es war ein mühseliges und erfolgloses Üben, die Griffel brachen leicht entzwei, wenn der Kasten herunterfiel. Es gab eine Fibel mit Buchstaben und Silben, die wir beim Lesen zu Wörtern zusammensetzen mussten, das ist 0-ma, O-ma und O-pa. Bald begriff ich, dass diese magischen Zeichen den Schlüssel zu einer mir unbekannten Welt bildeten, dass die Bücher im Schrank meiner Eltern aus ebensolchen Zeichen zusammengesetzt waren und dass ihre Kenntnis einen bestimmten Besitz bedeutete. Für das Rechnen fand ich vorerst noch keine reale Beziehung zu meinem Leben. Religion war ein Pflichtfach an der Volksschule, wie sie jetzt hieß - von der Gemeindeschule zur Volksschule, ein Begriffswandel, noch wurde Religion unterrichtet, und so entsprach die Gemeindeschule der einstigen Kirchengemeinde, und nicht lange zurück, da übte die Kirche auch Kontrollen über die Schule aus.
Auf der Suche nach Vorbildern entdeckten wir, Goll, Bruchner, Jendokeit und ich, Hans Stadel, die Nachmittagsvorstellungen der Kinos. ›Tom Mix, der Held von Texas›, ›Der Weiße Adler›, solche Titel sind mir in Erinnerung geblieben, nicht aber die Inhalte der Filme, nicht, was eigentlich passierte. Immerhin richtete sich unser Wünschen auf den Besitz eines Federschmuckes, eines Gewehres oder Beiles, wir überfielen einander mit Geheul und konnten uns lange nicht für diese oder jene Rolle entscheiden, für Weiß oder Rot.
Ludwig Goll, Sohn eines Schriftleiters, uns sicherlich am weitesten voraus, wohnte mit seinen Eltern in der Kissingenstraße. Damals schon besaß er ein jugendlich-düsteres Gesicht. Er öffnete mir einen Weg zu sich und zu mir selbst, indem er mir seine Gemütsbewegungen schilderte, Goll verwies mich auf meine Seele, die eigentlich, laut Verena und unserem Katecheten, Gott vorbehalten bleiben sollte. Goll las auch schon ziemlich fließend. Klassenbester wurde er unter Lehrer Zissels Leitung aber nicht. Nur wir Kinder achteten in Goll den geborenen Führer. Zu Goll stand ich auf vertrautem Fuße, er lud mich häufig zu sich ein, um mir Klavierstücke vorzuspielen. Ich lernte Violine; und durch Goll begriff ich, dass Musik etwas anderes bedeutet als Verenas Schrulle, zumal Goll auch praktisch half, Takt und Notenwerte schon beherrschte.
Die Golls besaßen eine große Wohnung. Golls Vater arbeitete viel zu Hause. Alles drehte sich um den Redakteur. Zu uns kam Ludwig auch. Verena verhielt sich ihm gegenüber zurückhaltend. Manchmal spielten sie zusammen vierhändig.
Ebenso nahe, wenn nicht näher, stand mir Hansjoachim Jendokeit, ein Junge von brünetter Hautfarbe, mit schwarzem Haar, langgliedrigen Fingern, ein Praktiker, der Zierfische hielt, elektrische Klingeln baute und Fahrräder reparierte. Sein Vater war Kaufmann, Versicherungskaufmann. Was Goll sich überlegen erarbeitete, fiel Jendokeit in den Schoß. Er spielte Querflöte, verstand nichts von Takt und Noten, aber drängelte sich dank einem guten musikalischen Empfinden in Golls Sonaten, ohne zu stören. Er kam ebenfalls zu uns, und Verena fütterte ihn mit Keks und gab ihm Apfelsaft zu trinken.
Dieter Bruchner gehörte halb und halb zu uns, was kaum an ihm lag, er wurde von seiner Mutter streng gehalten. Sein Vater arbeitete am Theater, aber nicht als Schauspieler.
Außer diesen Freunden gab es noch Zugvögel, die eine Zeit lang kamen, wegblieben, wieder einflogen und sich erneut zurückzogen, wie Schott, dessen Vater ein Farbengeschäft besaß. Schott, der immer reichlich mit Geld versehen war und dessen Grinsen wir alle als abstoßend empfanden.
Aus welchem Grunde wir vier oder zeitweilig fünf uns zusammenfanden, drückte der allwissende Ludwig so aus: »Wir gehören zusammen, wir machen doch diese Pantinenschule nur noch zwei Jahre mit.«
Dank meiner Freunde überwand ich die Furcht vor Lehrer Zissel und fasste das Ziel in den Blick, der Pantinenschule möglichst schnell zu entrinnen.
›Treptow in Flammen›, Verena und mein Vater würden in Urlaub fahren, ich sollte zu Mattias nach Wendisch-Rietz oder in die Berliner Wohnung. Wir fuhren mit einem neuen, gebraucht gekauften Wagen nach Treptow, Verena, mein Vater, ich und meine Freunde, um Abschied zu feiern für die Dauer der Ferien. Den Wagen hatte der alte Mattias bezahlt, und wir waren die Ersten aus unserem Bekanntenkreis, die ein Auto besaßen.
Es war eine große Limousine, durch ein Glasfenster im Innenraum geteilt. Verena hatte die Scheibe zurückgeschoben, um mit uns reden zu können, wahrscheinlich mehr noch, um zu hören, was wir redeten.
»Ihr habt geredet, was kleine Jungen so reden, ihr ward natürlich begeistert von dem Auto, von der Fahrt und den in Aussicht stehenden Vergnügungen.«
Treptow in Flammen, damals ein wöchentliches Großfeuerwerk. Als wir in dem Vergnügungspark ankamen, waren wir überwältigt: die Menge Menschen, der Lärm, das Angebot an Möglichkeiten.
»Ihr wolltet unbedingt alles oder soviel wie nur möglich sehen und machen.«
Ich erinnere mich an einen Mann, der mit einer Riesenkanone auftrat. Goll vermutete: »Der schießt sich selbst in die Luft.«
Ich hielt es für unmöglich sich in die Luft zu schießen, ohne getötet zu werden, aber Goll zuckte die Schultern: »Mein Vater hat so was erzählt, ich glaube, die Zeitung musste es einrücken.«
Damit wurde das Unmögliche wahrscheinlich.
Das Rohr der Kanone wurde hochgedreht, mit aller Umständlichkeit zogen die Gehilfen des Artisten ein Netz. Das Rohr ragte steil in den Himmel, und es wurde zur Gewissheit, dass sich dieser Mann in die Luft schießen lassen würde.
»Es ist ungefährlich«, sagte mein Vater, »wahrscheinlich ist eine Art Sprungfeder in dem Rohr, und es kommt nur darauf an, dass der Mann in das Netz fällt.«
Goll nickte spöttisch, und seine Miene machte mir bewusst, dass sich mein Vater albern benahm, sich und uns über die Gefahr hinwegtäuschen zu wollen.
Nun stieg der Mann noch in einen Schutzanzug, ich verstand, dass er die Spannung in diesen Sekunden erhöhen wollte, aber ich konnte jetzt keine Spannung mehr empfinden, nachdem Goll die Sache derart abgetan hatte. Nur Verena nahm alles für bare Münze, wie ich ihren ängstlichen Blicken entnahm. Endlich kletterte der Mann durch einen Einstieg in die Kanone. Der Schuss krachte, oben flog der Mann aus dem Rohr und landete mit ausgebreiteten Armen im Netz. Ein bisschen Bewunderung kam über uns.
Jendokeit sagte: »Hat geklappt.«
Mein Vater nickte. »Wollt ihr was trinken oder essen?« Wir suchten ein Zelt auf und aßen etwas, dann trollten wir zum Karussell, zum Riesenrad, und allmählich senkte sich der Abend, das große Feuerwerk begann, die Liebesinsel leuchtete rot, grün und weiß.
»Deine erste Zeit in der Volksschule«, Verena lächelte nachsichtig.
Wir standen im Treptower Park auf der Höhe der Sternwarte, seit jenem Tag des Feuerwerks waren viele Jahre vergangen. In der Allee wuchsen Ahornbäume, ihre Rinden schimmerten hell wie die Haut weißer Elefanten. Zu Tausenden hingen die stachligen Samenkapseln in den Zweigen. Der Refraktor der Sternwarte