Reinventing Narratives. Torben Lohmüller
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Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist dieses Verhältnis zwischen organisationalen Strukturen und Prozessen und ihrer sprachlichen Fassung bzw. die Frage, welche neuen sprachlichen Praktiken vonnöten sind, um die neue innere und äußere Komplexität von Organisationen zu erfassen. Fritz Simon räumt hier den Erzählungen, den Geschichten, einen besonderen Platz ein.
Diese sind offenbar eine höchst ökonomische Art, mit der Komplexität der Welt umzugehen. [...] Sie integrieren [...] in einzigartiger Weise kognitive und emotionale Schemata und werden so zu einem der wichtigsten Interpretationsrahmen, die wir als Menschen zur Deutung unserer Erfahrungen verwenden. [...] Wenn die Mitarbeiter einer Organisation die aktuellen Geschehnisse in einem ähnlichen oder gar denselben narrativen Rahmen stellen, dann nutzen sie in ihrer Kommunikation ein gemeinsames Deutungsschema, welches ihnen Verständigung, die Koordination ihres Verhaltens und gemeinsame Sinnstiftung erleichtert. (Simon 2009: 180).
Solche Formen erzählerischer Koordination und Sinnstiftung haben in Organisationen zwei Ausrichtungen. Zum einen bemühen sich diese in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und Außendarstellung um ein konsistentes Bild, zum anderen wirken die Erzählungen, wie Simon bemerkt, auch nach Innen und liefern Identifikation und Orientierung für die Mitarbeiter.
Wenn also Erzählungen für die Integration und Selbstbeobachtung von Organisationen eine so zentrale Bedeutung haben, stellt sich umso dringlicher die Frage, welche erzählerischen Formen der Komplexität der Organisation neuen Typs angemessen sind. Die von Wimmer bemerkte Differenz zwischen organisationalen „Realitäten“ und ihrer erzählerischen Verarbeitung deckt sich mit den Befunden der vorliegenden Arbeit. Auch Organisationen, die zunehmend auf dezentrale Strukturen und Selbststeuerung setzen, greifen in ihren Selbstdarstellungen auf Erzählmuster zurück, die gegenüber ihrem Gegenstand unterkomplex bleiben. Zwar eignet sich die klassische Heldenerzählung mit ihrem klar definierten Protagonisten als Deutungsschema für eine von einem Managerhelden aufopferungsvoll geführte hierarchische Organisation. Die Vielzahl der Beobachter, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, gelegentlich auch widersprüchlicher Handlungslogiken und die daraus entstehenden komplexen Interaktionen der an Netzwerken orientierten Organisationen kommen darin jedoch nicht vor.
Lernen könnten Organisationen hier von der Literatur. Diese hat sich in ihren progressiven Formen nämlich längst von Zentralperspektive, einfachen Handlungsverläufen und eindeutigen Wirklichkeitsbezügen verabschiedet. Getrieben durch die Beschleunigungen und Widersprüche der modernen Lebensverhältnisse hat sie Formen gefunden, die ein hohes Maß an Komplexität verarbeiten und dadurch handhabbar machen. Die Gegenüberstellung mehrerer gleichwertiger Erzählperspektiven, das Ineinanderflechten unterschiedlichster Beobachtungen und Textsorten sowie ein sich aus Fragmenten zusammensetzender Aufbau sind nur einige Mittel, denen wir beispielsweise in den literarischen Annäherungen an die moderne Großstadt bei Autoren wie John Dos Passos (1925) oder Alfred Döblin (1929) begegnen. Zu berücksichtigen ist dabei natürlich, dass Organisationen anderen Anforderungen und Risiken unterliegen als die fiktive Welt der Literatur. Ein Roman, dem es nicht gelingt, die von ihm bearbeitete Komplexität zu bewältigen, ist schlicht ein misslungener Roman, während eine desintegrierende Organisation im schlimmsten Fall aufhört zu existieren. Dennoch, so der Leitgedanke dieser Arbeit, ist es für Organisationen in volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Zeiten notwendig, sich auch in ihren Selbstbeschreibungen vom alten heroischen Denken zu verabschieden, um eben die Koordinationsleistungen zu erbringen, die durch ihre erhöhte Komplexität im Inneren erforderlich wird. Storytelling in postheroischen Zeiten meint in diesem Sinne eine sprachliche Integration auf hohem Komplexitätsniveau. Dass es dabei nicht notwendig so radikal zugehen muss wie im modernistischen Roman, sondern auch die bereits aus der Antike überlieferte Form des Gesprächs ein geeignetes Mittel dieser Integration sein kann, zeigt bspw. die Bedeutung des empathischen Zuhörens und des Dialogs in agilen Innovationstechniken wie dem Design Thinking.
Bei dem Versuch, alten und neuen sprachlichen Integrationen nachzugehen, verfolgt die vorliegende Arbeit – nach einigen grundsätzlichen theoretischen Überlegungen über die Funktion von Sprache in sozialen Systemen und über das Erzählen in und über Organisationen – das Wechselspiel zwischen organisationalen Strukturen und ihren erzählerischen Wirklichkeitskonstruktionen. Die Neigung des Verfassers zu heterogenen Perspektiven findet dabei ihren Niederschlag auch im Versammeln unterschiedlicher disziplinärer Diskurse, die durch ihre strukturellen Anschlussfähigkeiten die hier geleisteten Beobachtungen anreichern sollen.
Sprache, Erzählung, Organisation
Kapitel 2
Sprache, Erzählung, Organisation
2.1. Maturana und die Biologie der Sprache
Da es im Folgenden um die von Wimmer geforderte „sprachliche Fassung“ organisationaler Wirklichkeiten und die von Simon konstatierte Koordinationsleistung erzählerischer Formen geht, soll zunächst grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und den zu koordinierenden Verhältnissen beleuchtet werden. Als hilfreich erweist sich dafür eine vom Vater des Autopoiese-Konzepts, Humberto Maturana, entwickelte Theorie menschlicher Sprache. Ausführlich erläutert er diese in dem 1978 erschienenen Aufsatz „Biology of Language: The Epistemology of Reality“. Maturana eröffnet seinen Aufsatz mit der Feststellung, dass alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird, und führt dazu weiter aus:
An observer is a human being, a person, a living system who can make distinctions and specify that which he or she distinguishes as a unity, as an entity different from himself or herself that can be used for manipulations or descriptions in interactions with other observers. An observer can make distinctions in actions and thoughts, recursively, and is able to operate as if he or she were external to (distinct from) the circumstances in which the observer finds himself or herself. Everything said is said by an observer to another observer who can be himself or herself. (Maturana 1978: 31)
Für Maturana (auch er ist „nur“ Beobachter) ist Sprache eine Form der Beobachtung, d. h. einer spezifischen System-Umwelt-Unterscheidung, durch die ein Mensch in der Lage ist, die Umstände, in die er eingebettet ist, als von sich unterschieden zu behandeln und in der Interaktion mit anderen zu nutzen. Der sprechende Beobachter beobachtet sich selbst in seinem Verhältnis zu seiner Umwelt und koordiniert sich dabei durch sein Sprechen mit anderen Beobachtern. Die Verwendung der Sprache ist damit immer an einen spezifischen Kontext gebunden und grundsätzlich relational bzw. dialogisch als Interaktion mit einem anderen Beobachter verstanden. Den Kontext bezeichnet Maturana als konsensuellen Bereich (consensual domain) und definiert ihn als „the domain of interlocked conducts that result from ontogenic reciprocal structural coupling between structurally plastic organisms“ (ebd. 47). Wenn Menschen über strukturelle Kopplungen an einander gebunden sind und damit relevante Umwelten für einander werden, die sich gegenseitig in der Fortführung und evolutionären Entwicklung ihrer Autopoiese anregen, entsteht eine konsensuelle Koordination von Verhalten, die diese Kopplung weiterbestehen lässt.
In der Sprache der klassischen Systemtheorie haben wir es hier zunächst mit einer Kybernetik erster Ordnung zu tun, in der die Veränderungen einer der Systemkomponenten reziproke, jedoch weiterhin durch die jeweils eigene Autopoiese strukturdeterminierte Veränderungen bei der anderen hervorruft. Operational entsteht eine Beobachtung dieser Kopplung – also eine Beobachtung zweiter Ordnung – im konsensuellen Bereich und unter der beim Menschen gegebenen Bedingung einer hohen neuronalen Plastizität dann, wenn „the relations of neuronal activity generated under consensual behavior become pertubations and components for further consensual behavior“ (ebd. 49). Voraussetzung für die Metabeobachtung des Verhaltens ist also die Differenz von Zuständen, die sich aus der Evolution des auf einander bezogenen Verhaltens ergibt und die wiederum als Perturbationen in die Interaktionen eingespeist und zur weiteren Koordination des Verhaltens genutzt werden.