Er nennt's Vernunft. Regine Wagner-Preusse
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„Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung, bei Strafe des Untergangs, zu vollziehen genötigt ist. ... Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es die Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat.“ 1) Der Text entstand 1880. Engels hatte in einem Punkt recht: „Die kapitalistische Produktionsweise (hat) die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt.“ Heute spricht man von abhängig Beschäftigten. Das ist der Arbeiter im Industriebetrieb, die Verkäuferin bei Aldi, der Kfz-Mechaniker in der Werkstatt, die Krankenschwester, die Ärztin, der Ingenieur, der Manager...
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, so hatte ich es gelesen in den blauen Bänden von Karl Marx, so wurde es damals in linken Zirkeln diskutiert. Also kann jeder erkennen, dass er als abhängig Beschäftigter ausgebeutet wird. Und dass die Arbeiterklasse das historische Subjekt ist, die die Fesseln der Ausbeutung von sich werfen wird, wenn sie erst ihre Lage erkannt hat. Das ist schon lange her, dass Marx dies im Kommunistischen Manifest geschrieben hat.Und was ist geschehen? Nichts. Die arbeitende Klasse hat es sich in den Verhältnissen bequem gemacht. Warum? Weil es sich im ausbeuterischen Kapitalismus bequemer und komfortabler leben lässt als unter Verhältnissen sozialistischer Mangelproduktion? Keineswegs, sagten die schlauen Genossen. Die arbeitenden Menschen sind noch nicht so weit. Die kapitalistische Propaganda, die Meinungsmanipulation durch die kapitalistischen Massenmedien, das verstehst du doch?
Und marxistische Theoretiker meinten, bevor man sich um das Bewusstsein der Menschen kümmere, müsse man sich zunächst mit den allgemeinen Grundzügen einer Theorie der kapitalistischen Gesellschaftsform beschäftigen. Dies sei unabdingbar für die richtige Analyse der empirischen Verhältnisse. Diese marxistischen Sozialwissenschaftler verfassten Abhandlungen über die Struktur des Klassenbewusstsein und die allgemeinen Bedingungen seiner Entfaltung. Dabei scherten sie sich nicht um die Wirklichkeit. Nein, rein begrifflich, ohne Erfahrungsgrundlage, kraft ihrer Gedanken wollten sie dem Bewusstsein auf die Schliche kommen. 2) „Aus der marxistischen Theorie versuchte man seine idealtypische Struktur ebenso abzuleiten wie die Formen ideologischer Verkehrungen des Bewusstseins.“ 3) Sie erklärten zum Beispiel, Arbeiter seien der Ansicht, ihre Arbeit werde gerecht entlohnt. Das sei eine Illusion, verursacht durch gängige Lohnsysteme, die verschleierten, dass Beschäftigte nur so viel bekämen, wie sie zu ihrer Reproduktion benötigten. Alles was sie darüber hinaus mit ihrer Arbeit an Werten geschaffen hätten, den Mehrwert, den behalte der Unternehmer.Nur die Arbeit schaffe Werte, also stehe dem Arbeiter als Entlohnung das zu, was er geschaffen habe. Nicht im Kapitalismus, wo der Arbeiter nichts als seine Arbeitskraft besitze, weil der Kapitalist den einbehaltenen Mehrwert, den ja der Arbeiter geschaffen habe, zum einen in Maschinen und Fabrikgebäude investiert, zum anderen in Luxusgüter, um es sich gut gehen zu lassen. Die Produktionsmittel seien letztendlich aus dem einbehaltenen Mehrwert, geronnener Arbeit, entstanden, und darum gehe es nicht mit rechten Dingen zu, wenn sie Eigentum des Kapitalisten sind.
Arbeit sei im Kapitalismus genauso Ware wie alle anderen Produkte, die für den Markt von Arbeitern geschaffen werden. Der Wert der Ware Arbeitskraft sei abhängig von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion erforderlich sei. Deshalb bekämen die Arbeiter nicht das, was sie verdienten, sondern nur so viel, dass sie sich und ihre Familien erhalten können, zur eigenen Reproduktion und um täglich aufs Neue den mehrwertschaffenden Dienst beim Kapitalisten zu verrichten. Doch mit der Ausbeutung habe es bald ein Ende, prophezeite Marx schon 1848. So wie die Sklaven der Antike sich gegen ihre Herren erhoben hätten, so wie das Bürgertum sich der feudalen Fesseln entledigt hatte, so werde die Arbeiterklasse sich befreien, um die Früchte ihrer Arbeit nicht mehr mit ihren Ausbeutern und Unterdrückern teilen zu müssen.
Marx lebte von 1818 bis 1883 in einer Zeit des Umbruchs. Die Französische Revolution 1789, die Revolution in Frankreich und Italien1848. Im gleichen Jahr rebellierten die Menschen in den deutschsprachigen Ländern gegen die Habsburgermonarchie. Da war Karl Marx 30 Jahre alt und damit beschäftigt, die kommunistische Bewegung zu gründen. Marx war kein Arbeiter. Er hatte einen bürgerlichen Beruf erlernt. Vor welchem zeitgeschichtlichen und biographischen Hintergrund konnte es dazu kommen, dass der Rechtsanwalt zum Cheftheoretiker nicht nur der Arbeiterklasse und aller abhängig Beschäftigten, nein überhaupt zum Vordenker für alle Entrechteten und Enterbten wurde?
Das Sein und das Bewusstsein von Karl Marx
Marx, der Sohn eines Juristen, der Enkel eines Rabbiners. Der Vater konvertierte zum Protestantismus, um als Jude in Preußen weiter als Anwalt arbeiten zu können.
Marx studiert Rechtswissenschaften, verlagert seinen Schwerpunkt aber auf die Philosophie, nachdem er in Berlin Hegel gehört hatte.Schließt sich den Junghegelianern an, die den Hegelschen Satz „alles was ist, ist vernünftig“ auf ihre eigene Weise auslegten: „Alles was vernünftig ist, muss sein.“ Darin steckte kritisches Potential: die Gesellschaft musste so verändert werden, dass es in ihr vernünftig zuging.Zieht von Berlin nach Bonn, weil er dort mit einer Professur in Philosophie rechnet.Heiratet eine Adelige, hat mit ihr sieben Kinder, von denen nur drei bis ins Erwachsenenalter überleben.
Seinen unehelichen Sohn mit der Hausangestellten erkennt der Anwalt der Entrechteten und Enterbten nicht an. Helene Demuth, die Mutter, muss den Sohn in eine Pflegefamilie geben, während sie auch weiterhin als Dienstmädchen bei der Familie Marx arbeitet.
Marx schlägt sich als Redakteur durch, nachdem es nicht klappt mit der Professur in Bonn. Ist ständig in Geldschwierigkeiten.
Warum er zum Theoretiker der kommunistischen Bewegung wird, das erschließt sich für mich nicht aus dieser Biographie.Auch nicht, woher seine Affinität zur Philosophie kommt, die so stark ist, dass dagegen der ursprüngliche Berufswunsch in den Hintergrund tritt?
Wie wäre Marx Leben verlaufen, wenn er Philosophie-Professor in Bonn geworden wäre?
Arnold Künzli 4) kommt in seiner Marx-Psychographie zu dem Schluss, dass in wichtige Teilen der Marx‘schen Theorie in starkem Maße dessen jüdische Wurzeln wirkmächtig wurden, gerade weil Marx sein Judentum verdrängt habe. Und verdrängte Bewusstseinsinhalte könnten besonders wirksam werden, weil sie sich dem dem bewussten Zugriff entziehen. Mit Ausnahme von Marx Vater waren seine Vorfahren über viele Generationen Rabbiner, die Familie war also ganz besonders im jüdischen Glauben verwurzelt. Der Vater von Marx konvertierte zwischen 1816 und 1822 zum Protestantismus, da er als Jude in Preußen sein unter Napoleon angetretenes Amt als „Advokat- Anwalt“ nicht hätte weiterführen dürfen. Dieser Bruch mit dem Judentum war beruflich motiviert, was vermuten lässt, dass innerhalb der Familie weiterhin jüdische Regeln praktiziert wurden. Nach außen bekannte man sich zum Protestantismus, doch in der Familie galt die jüdische Tradition. In diesem Umfeld wuchs Marx auf und es ist anzunehmen, dass ihm aus seiner Kindheit jüdische Glaubensinhalte und Grundsätze nicht nur vertraut sind, sondern auch von ihm verinnerlicht wurden.
Künzli belegt anhand von Marx‘ eigenen Texten, dass wesentliche Argumentationsfiguren der Marx‘schen Theorie strukturell übereinstimmen