Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt
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»Sieht aus wie ein Heiligenschein.«
»Richtig. Phantastisch, dass Sie das sofort erkannt haben. Sie sind ein Medium!«
»Medium – wo haben Sie bloß diesen Unfug her?» fragte ich.
»Das Schattenlesen? Von meiner Zimmerwirtin. Es ist kein Unsinn, sie hat damit den Tod ihres Mannes und die Krankheit ihres Sohnes vorausgesagt.«
»Erklären Sie mir, warum es nicht der Häuserblock gegenüber ist?«
»Es ist der, auf den Sie zuerst kommen, den Sie als erstes wahrnehmen, wen Sie sich umschauen.«
»Und er steht also zwischen uns – der Mann mit dem Heiligen-
schein?«
Sie nickte heftig, fast kindlich überzeugt, als sei das alles so klar wie Klärchen für sie. Vermutlich hätte sie noch jede Menge beliebige Einzelheiten über die künftigen Konflikte unserer Beziehung aus den Schatten herausgelesen, wenn sie sich nur dazu eigneten, mich loszuwerden …
»Er trennt das dunkle männliche und das helle weibliche Prinzip, weil sein Arm nach unten zeigt.«
»Es ist nur der Ast einer Pappel«, widersprach ich.
Plötzlich kam Barbara in den Sinn, dass bald der letzte Bus ins Zentrum fahren würde und man in dieser Gegend manchmal stundenlang vergeblich wegen einer Taxe telefonierte.
Immerhin gelang es mir, ihre Adresse zu erfahren – mit der Drohung, ich würde sie mir sonst aus der Personalabteilung beschaffen. Mein Versuch dagegen, den Schattenriss der Hausdächer im Westen als Amors Bogen zu deuten, ging völlig in die Hose.
»Ich bringe Sie jetzt zur Haltestelle«, meinte sie und hakte sich bei mir ein.
Das Ampheton hatte eine merkwürdige Nebenwirkung: Es verursachte »vernünftige« Träume. Ich träumte, dass ich Kruschinsky unbedingt anweisen musste, die Birnchen unter dem Tipptastenfeld der Fahrstuhlbedienung auszuwechseln und einen neuen Kode einzugeben. Und dass ich mich längst um F.s Notizbuch hätte kümmern sollen (selbst wenn es vielleicht nicht viel zu bedeuten hatte, dass mein Name über dem Kodetext stand, war es vernünftiger, sich darüber Klarheit zu verschaffen). Dann fielen mir die Fragen ein, die ich Kofler stellen würde, und ob es ihm gelang, für alle Verdachtsmomente eine plausible Erklärung zu finden.
Ich würde mich mit Koflers ins Englische übersetztem Buch beschäftigen, das mir Kruschinsky besorgt hatte, um herauszufinden, was F. neben Koflers Schuld offenkundig am meisten interessierte: welche Ideologie er vertrat. Oder anders ausgedrückt: mit welchen Schachzügen sie seine ungeheuere Popularität im Westen bewirkt hatten. Denn erstaunlicherweise war sie hier größer als im eigenen Land. Bei alledem blieb die Frage offen, was das Linkshänderfoto zu bedeuten hatte.
Ich zermarterte mir das Hirn und erwachte darüber …
… und als ich das linke Bein aus dem Bett setzte, stieß mein Fuß auf das aufgeschlagene Exemplar von William Smith‘s Oden an den Herbst …
Ich konnte mich nicht erinnern, vor dem Einschlafen darin gelesen zu haben.
Dann fiel mir ein, dass es mich daran erinnern sollte, F. wegen des Kerls vor der Bäckerei anzurufen. Ich wusch mich über dem Becken, rasierte mir den zwei Tage alten Bart ab und spreizte den Mund, um meine Zähne zu betrachten. Ich befühlte die Schneidezähne zwischen Daumen und Zeigefinger: Sie hatten sich nicht weiter gelockert. Das Ampheton ersetzte auch die Zange des Zahnarztes – auf eine Weise, die vermutlich weder seine Erfinder noch die Betroffenen je durchschauen würden, führte es zu Zahnfleischschwund, allerdings nur, wenn man es über einen längeren Zeitraum einnahm.
Bevor ich hinüberging, strich ich meinen Namen in F.s Notizbuch mit einem Filzschreiber durch.
Kruschinsky lehnte am Fenster und las die Morgenzeitung.
»Können Sie das dechiffrieren?«, fragte ich und reichte ihm das Heft. »Sie verstehen doch was davon.«
Er warf einen Blick auf den Kode aus Buchstaben und Zahlen. »Lassen Sie mir eine halbe Stunde Zeit.«
Ich nickte, dann klopfte ich an Koflers Tür.
Er saß angezogen auf der Bettkante, über ein paar Papiere gebeugt. Der Rest des Manuskripts lag malerisch verstreut auf dem Bett, dem Tisch und dem Boden vor seinen Füßen.
»Sie sind spät dran – später als sonst«, meinte er aufblickend. »Ich hatte gestern Abend Gelegenheit, mich etwas länger mit Ihrem Kollegen zu unterhalten. Er ist ein bemerkenswert klares Beispiel der Indifferenz, die für Ihre Generation kennzeichnend ist: den Kopf voller Widersprüche. Umweltbelastungen, Wettrüsten, Klassenunterschiede, zunehmende Gewalttätigkeit und Hungersnöte in der Welt machen ihm zwar verbal zu schaffen, aber in Wirklichkeit scheint er doch nichts Eiligeres im Sinn zu haben, als zu seiner Freundin zurückzukehren, die irgendwo in Norddeutschland lebt.«
»Ach«, sagte ich mit gespielter Überraschung, »davon wusste ich nichts.«
»Heißt das, Ihre Mitarbeiter werden vor der Einstellung nicht überprüft?«
»Und Ihr Konzept – wie sieht es aus?«, erkundigte ich mich, als hätte ich nicht verstanden. »Was ist das Geheimnis Ihres Erfolges? Die Ziele der Gewerkschaftsbewegung halten Sie nicht für ausreichend, den orthodoxen Marxismus-Leninismus lehnen Sie angeblich ab – den Kapitalismus ebenso.
Als Sie im Westen noch weniger bekannt waren, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Französische Journalisten suchten Sie wegen eines Interviews auf. Die polnische Führung erhielt jedoch einen Wink aus Moskau, und man stellte Sie vor die Alternative, das Gespräch abzusagen, oder Ihre Frau, die zu jener Zeit in einem russischen Gefängnis einsaß und so krank war, dass man ihre Überführung in eine Leningrader Spezialklinik erwog, würde auf die Behandlung verzichten und sich mit dem Gefängniskrankenhaus bescheiden müssen.
Ihre Reaktion war ungewöhnlich – Sie entschieden sich für das Interview! Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung«, sagte ich. »Die Fernsehsendung machte Sie im Westen mit einem Schlage bekannt. Es war ein großangelegtes Porträt, auf das Sie nicht verzichten wollten. Französische Kommunisten feierten Sie danach – ein wenig zu überschwänglich – als den größten marxistischen Kopf der Gegenwart. Währenddessen starb Ihre Frau im Gefängnishospital …«
Kofler wirkte wie erstarrt. Der Stapel Manuskriptseiten auf seinen Knien zitterte leicht.
»Halten Sie das wirklich für eine plausible Erklärung?«, fragte er blass. »Glauben Sie ernsthaft, ich hätte meine Frau für ein Fernsehinterview geopfert?«
»Wir nehmen an, hier wusste die Linke nicht was die Rechte tat. Die Behörden hielten Sie für einen gefährlichen Dissidenten – der KGB dagegen setzte alles daran, Sie als einen solchen aufzubauen! Das Interview im französischen Fernsehen war sorgfältig vorbereitet. Es bedeutete für Sie den eigentlichen Durchbruch. Außerdem hatten sich die Beziehungen zu Ihrer Frau verschlechtert, seitdem sie – in gutem Glauben an Ihr Einverständnis – Teile eines Manuskriptes über Freunde in den Westen geleitet hatte.
Sie