Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

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Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt

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nicht Mord – als handele es sich um die Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils – im Unklaren zu lassen.

      Ich erfuhr nicht mal, ob die Schuldsprüche, die auf der Grundlage meiner Ermittlungsarbeit gefällt wurden, tatsächlich immer die »äußerste Konsequenz« (wie F. es gelegentlich abschwächend nannte) nach sich zogen.

      »Das alles verursacht nur böse Träume«, lachte er. »Die Tatsache dass und das Wissen wie sie umkommen, könnte Sie entscheidende Fakten in anderem Licht sehen lassen, weniger eindeutig, weniger gewiss. Gefühle, der menschliche Faktor – verstehen Sie?

      Schreiben Sie nur weiter Ihre Berichte. Durchforsten Sie ihre Lebensgeschichte.

      Kommen Sie ihnen auf die Schliche, entlarven Sie ihre Tricks und Täuschungsmanöver, durchschauen Sie ihre geheimen Absichten, die Pläne, die man drüben für sie ausgearbeitet hat. Sie sind ja Spezialist darin. Finden Sie heraus, auf welche Weise sie unserem Staat schaden wollen. Das ist alles. Den Rest erledigen wir.«

      In den vergangenen Jahren hatte ich dreizehn Fälle für F. bearbeitet – alle zu seiner Zufriedenheit, wie er mir immer wieder versicherte …

      Aber nur ein einziges Mal hatte ich miterlebt, wie jemand dabei ums Leben gekommen war. Ein magerer weißhaariger Kerl, der versuchte, über die Mauer an der Bellevuestraße in den Ostsektor zurückzuklettern.

      Er trug einen blau-weiß gestreiften Krankenhausanzug der billigsten Sorte, wie er Patienten gestellt wird, wenn man gerade von drüben gekommen und auf alles andere gefasst ist als auf einen Krankenhausaufenthalt. Also eher auf die Ausstellung eines Reisepasses und der Papiere, die man im Westen benötigt, oder die Prozedur der Flüchtlingsaufnahme, die üblichen bürokratischen Hürden und Befragungen.

      Ich bog gerade vom Kemperplatz ein, wo ein Kiosk war, an dem ich Zigaretten und Tageszeitungen kaufte – einer meiner wenigen Kontakte zur »Außenwelt« –, wenn ich aus der Privatwohnung kam.

      Er saß rittlings auf dem Rohrkranz der Betonmauer, etwa fünfzig Schritte entfernt und sah ziemlich verwirrt aus! Sein weißes Haar war strähnig und ungekämmt und seine Gestalt wirkte irgendwie kränklich, leidend, während er – geblendet vom plötzlichen Scheinwerferkegel des Wachturms im Ostsektor – abwehrend seine Arme hochriss …

      … und dabei schwankte, als würde er jeden Moment das Gleichgewicht verlieren …

      Ich sah, dass er beim Hinaufklettern einen seiner beiden Pantoffel verloren hatte. Dicht an der Mauer unter ihm parkte ein offener VW-Transporter mit Farbeimern und einer Anstreicherleiter, die von der Ladefläche aus gegen den Mauerkranz lehnte. Die Mauer war hier an der schräg abfallenden Straße höher als weiter hinten, aber die Leiter hatte es ihm trotzdem ermöglich, ohne Probleme auf den Mauerkranz zu steigen.

      Passanten, Frauen mit Einkaufstaschen und ein bärtiger junger Mann, der einen Kinderwagen voller leerer Bierkästen schob, ermunterten ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite mit Winken und Zurufen. Aus einem Wohnungsfenster über mir rief jemand:

      »Spring endlich, alter Narr …«

      – und eine Frauenstimme antwortete aus der Tiefe des Zimmers mit heiserem Lachen …

      Es war Herbst. Die Blätter waren gelb und fielen von den Bäumen. Passend dazu las ich gerade Willliam Smith‘s Oden an den Herbst (ein fast vergessener irischer Dichter des 17. Jahrhunderts). Aber solche Texte machten mich immer ein wenig depressiv. Trotzdem konnte ich‘s nicht lassen!

      Auf den Mann auf der Mauer war ich jedenfalls nicht gut vorbereitet. Offenbar glaubten sie im Wachturm, er käme von drüben. Es war nur natürlich, das anzunehmen. Wer überklettert schon die Mauer von West nach Ost?

      Doch das kalte grelle Scheinwerferlicht schloss jeden Zweifel für mich aus – derselbe Mann hatte mir dreißig Tage und Nächte in einer eigens für Verhöre hergerichteten Wohnung an der Luckauer Straße gegenübergesessen. Dreißig Tage und Nächte, die über sein Leben entschieden. Stunden, in denen sich ein Indiz, ein Fehler, ein Hinweis, ein Verdachtsmoment an das andere reihten.

      Ich schrieb meinen Bericht, und sein Schicksal war besiegelt.

       Ad multos annos …

      Auf welche Weise, das erfuhr ich nicht. Angeblich war er ein bulgarischer Dissident – ein Funktionär –‚ den Zweifel an der Realisierbarkeit des sozialistischen Traums befallen hatten und der im Alter von achtundsechzig Jahren (er sah älter aus) zum Kapitalismus konvertiert war.

      Eine freche Täuschung, nichts weiter. Er war ein erbärmlicher Schauspieler.

      Es verwirrte ihn schon, dass ich ihn fragte, ob ihn der Materialismus des Westens nicht anwidere.

      Nach den herübergefunkten Unterlagen bestanden Verdachtsmomente, ihn in jene Kategorie von Überläufern einzustufen, die ein Rechtsstaat zwar akzeptieren sollte, das übergeordnete Interesse der Allgemeinheit jedoch nicht akzeptieren kann (»dem Ideal nach vielleicht, aber nicht in der Wirklichkeit«),wie F. zu beteuern pflegte: jene (durchaus seltenen) Fälle, in denen ein Individuum dem Land voraussichtlich mehr schaden wird, als die moralischen Bedenken gegen seinen Tod wiegen könnten.

      Ich hatte das Problem mit F. in den vergangenen Jahren wieder und wieder diskutiert. Er war so etwas wie moralische Aufrüstung, Beichtvater und Psychotherapeut für mich.

      Doch nie hat er mich wirklich davon überzeugen können, dass dieses Verfahren durch politische oder weltanschauliche Erwägungen zu rechtfertigen ist.

      Ich halte seine Äußerungen, obwohl sie sehr überzeugend vorgetragen werden, für die obskuren Entlastungsversuche eines Schreibtischtäters, dem von höchster Stelle – die immer ungenannt bleibt – angeblich keine Wahl gelassen wird. Die Betonung liegt auf »angeblich«.

      Er versucht für mich und den Verein, den er leitet, ein guter Medizinmann zu sein, aber ich habe den Glauben an die wohlmeinenden Götter und Dämonen hinter seinem Pulverdampf und seinen Beschwörungsriten längst verloren.

      Trotzdem ist und bleibt er eine beeindruckende Erscheinung, eine mächtige, knapp zwei Meter hohe Gestalt mit kreisrunder, randloser starker Brille und völlig kahlem Kopf, an dem selbst die Spur eines Härchens oder Flaumes fehlt – nicht einmal Augenbrauen besitzt er, und seine Augenlider sind wimpernlos.

      Sein Gesicht ist auf eine ungewöhnliche Weise leer, unbestimmt, als gehe die teigige Haut der Wangen konturlos in das Kinn über. Und doch vergisst man es nicht, wenn man es einmal gesehen hat. Er spricht bedächtig, beinahe gesetzt:

      »In allen Staaten – vor und hinter dem Eisernen Vorhang – gibt es Institutionen wie die unsrige, die ein Schattendasein führen, von deren Existenz niemand auch nur ahnen darf. Nicht einmal dem Geheimdienst ist die wirkliche Rolle seines Ablegers bekannt.

      Ihre Aufgabe ist es, Aufträge von höchstem Staatsinteresse in einer Weise zu lösen, die sich mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht erreichen ließen. Glauben Sie denn, Bolijar wäre durch ein ordentliches Gericht verurteilt worden?«

      Er erwähnte Bolijar, einen meiner Fälle aus dem ersten Jahr, als ein besonders krasses Beispiel!

      »Nein, mit Sicherheit nicht! Und ich schwöre Ihnen in die Hand«, sagte er und legte seine große weiche, ebenso gestaltlose Hand auf die meine, »der Schaden durch ihn wäre so immens gewesen, dass jene Richter, die ihn freisprechen mussten, bei genauerer Kenntnis der Lage die Hände über

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