Kultur oder Rasse und die zweigeteilte Welt. L. Theodor Donat
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Tag für Tag wurde ich mit neuen Situationen konfrontiert. So konnte ich auf praktische Art erfahren, dass ich Lösungen finden konnte. Auf diese Weise wurde der erste globale Eindruck meines absoluten Unvermögens nach und nach gemindert. Natürlich gab es prekäre Seiten, wie die Infrastruktur unserer Stadt. Die medizinische Versorgung war rudimentär, es gab Jahre ohne einen einzigen Arzt in der ganzen Stadt. Dabei hatte das Regionalspital ein Einzugsgebiet von weit über hunderttausend Menschen. Wir hatten zwar eine sehr kompetente Krankenschwester, aber sie konnte im Notfall weder operieren noch Wunden nähen. Trinkwasser im Sinne europäischer Normen gab es erst ein Dutzend Jahre später. Solche prekären Situationen waren nicht aus der Welt zu schaffen. Wir waren immerhin eine Tagesreise von der Zivilisation der Hauptstadt entfernt.
Später habe ich dann gelernt, dass kein Mensch alle Probleme lösen kann und muss, sondern bloss jene, denen er begegnet. Mit dem Beginn des Unterrichts fand ich einen guten Zugang zu meiner neuen Umgebung. Natürlich habe ich nach freundschaftlichen Beziehungen gesucht, indem ich besonders begabte Schüler zu fördern und durch sie das Leben in unserem Gastland zu verstehen versuchte. Letzteres geschah auch mit Einladungen zu Fussmärschen, wenn möglich in ihr Heimatdorf.
Die Ausdrücke „Dorf“ und „Quartier“ werde ich synonym gebrauchen. Das Miteinander der Menschen ist eher in einem kleinen Dorf, eben in einem Quartier möglich, wo die gegenseitigen Beziehungen überschaubar sind. Das liess sich in kleinen Dörfern, aus denen viele unserer Schüler stammten, gut beobachten.
In Liebe Dein L. Theodor
Das Leben, das ich entdeckte war so ganz anders als jenes meiner Erziehung oder meines Ordenslebens. So versuche ich, wie in den beiden anderen Bücher daRev und dvUr – sozusagen mit ein paar Pinselstrichen – eine Kultur zu skizzieren, die ich derart überhaupt nicht erwartet hatte, ja nicht einmal erwarten konnte, da das Zusammenspiel ihrer Werte meinen damaligen Horizont einfach überstieg.
2. Begegnung mit einer neuen Kultur
Liebe Carole,
Du mußt sehr geduldig sein, Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Mißverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bißchen näher setzen können ... (klP XXI)
Der Rat des Fuchses im klP, wie man Freunde werden kann, gilt auch für die Begegnung mit einer neuen Kultur, die man erst „zähmen“ muss. Man kann sie nicht überziehen wie einen Anzug, man wächst ganz langsam in sie hinein. Eigentlich sollte dieser Brief am Schluss unseres Austausches stehen. Ich habe ja alle Jahre meines Aufenthaltes benötigt, um den Reichtum zu erahnen, der sich mir mit dem Eintritt in eine neue Kultur eröffnete. Aber diese Kultur, in der ich lebte und arbeitete, spielt eine Rolle in jedem der Aspekte, die ich Deinen Freunden beschreiben möchte. Deshalb sei von ihr hier und jetzt die Rede.
Als ich in unserem Kollegium ankam, war ich war kompetent, Mathematik oder Physik zu unterrichten. In den folgenden 27 Jahren musste ich in noch andere Kompetenzen erwerben.
Ich glaube, das sei nebenbei gesagt, dass nicht mehrere Ausbildungen vonnöten sind, um in der heutigen Welt den Anschluss nicht zu verlieren. Es genügen eine erste, gute Ausbildung und der Wille, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen.
Natürlich habe ich Bücher von Ethnographen gelesen, ab und zu mit viel Interesse und Gewinn. Aber ist es überhaupt möglich, eine andere Kultur sozusagen theoretisch zu studieren und auf ein längeres Mitleben zu verzichten? Geht es nicht darum, eine neue Welt von Werten immer wieder neu zu entdecken oder zu erahnen?
Ein Ethnograph war einmal bei uns zu Tisch. Er hatte ein – übrigens sehr lesenswertes ‒ Buch über meine Gastkultur geschrieben. Ich fragte ihn, weshalb im Titel seines Buches der Begriff „Götter“ vorkomme, da doch meine Gastkultur auf einem ganz klaren Monotheismus beruhe. Er antwortete mir, der Titel töne so besser für das Marketing!
Unsere Schüler/innen erlaubten mir, Schritt für Schritt in ein mir unbekanntes Universum einzudringen. Mit ihnen machte ich Wanderungen, um die nähere und die weitere Umgebung kennenzulernen, sie luden mich zu bestimmten Festen ein, und nicht zuletzt führten sie mich in den Gebrauch des lokalen Hirsebiers ein, das nur wirklich gut schmeckt, wenn es aus einem irdenen Krug kommt und in Kalebassen serviert wird.
Kalebassen sind die luftgetrocknete Schalen der ausgereiften Flaschenkürbispflanze. Durch das Trocknen bildet sich aus der sonst eher fleischigen Fruchthülle des Kürbisses eine harte, wasserundurchlässige und holzige Aussenhaut. Es gibt verschiedene Formen. Hirsebier wird in ungefähr halbkugelförmigen Kalebassen serviert. Geschöpft werden kann das Bier mit einer kleineren oder mit einer flaschenförmigen Kalebasse. Kleine flaschenförmige Kalebassen werden zur Aufbewahrung von Medikamenten u.Ä. benutzt. Besonders grosse Kalebassen werden, mit einer Tierhaut überzogen, für verschiedene Musikinstrumente verwendet, z.B. für eine Art Langhalslaute.
Hirsebier: alkoholhaltiges Getränk auf der Basis von Hirse, das in einem mehrtägigen Verfahren hergestellt wird (in meiner Gastkultur in mindestens fünf Tagen). Zuerst werden die Hirse-Körner in Wasser eingelegt, dann zugedeckt zum Keimen gebracht, ausgelegt angetrocknet, später wird das gekeimte Korn gemahlen und in einem mehrstufigen Verfahren mit Wasser gekocht, schliesslich wird es in Krügen abgefüllt, die Rückstände des Ferments enthalten. Je nach Kultur ist die Stärke des Hirsebiers verschieden.
Wenn man so mit anderen um einen grossen Krug sitzt, erfährt man Wichtiges, Philosophisches und Humorvolles. Obwohl ich erst nach vielen Jahren begann, Schlüsselinstitutionen oder -begriffe zu ordnen, fühlte ich mich von Anfang an in meiner neuen Welt aufgenommen, und ich konnte neue Situationen immer besser verstehen. Natürlich stellte es sich manchmal heraus, dass mein Verständnis ein nur vorläufiges war. Meine Integration blieb immer ein Prozess.
Die Elemente zum Verständnis meiner Gastkultur lieferte mir eine Vielzahl von Einflüssen, Hunderte von Besuchen, vor allem in drei kleinen Dörfern. Oder Hunderte Momente des Lachens mit einem Freund oder mit einem der Ältesten. Das Lernen und Praktizieren traditioneller Tänze, die Teilnahme an Initiationsriten, Festen und „Funérailles“ etc., all das waren gewissermassen Mosaiksteine, mit denen in vielen Jahren ein Bild entstehen konnte.
Funérailles, notabene, ist ein wichtiges, mit einem Fest verbundenes Totengedächtnis, das etwa ein Jahr nach dem Tod eines älteren Menschen stattfindet.
Ein Schüler erzählte nach einem Aufenthalt im traditionellen afrikanischen Milieu folgende Geschichte: Der Grossvater hält sich mit zwei kleinen Kindern im Eingangshaus auf. Er sagt zum Kleineren, er möge den Grösseren fesseln. Es ist natürlich der Grössere, der den Kleineren bändigt. Der Kleinere gibt sich alle Mühe, gegen den Grösseren anzukommen, aber schliesslich liegt er ohnmächtig auf dem Rücken. Der Grossvater sagt lächelnd zum Kleinen: „Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen grossen Bruder fesseln, ihn nicht einfach niederdrücken“. Das Lächeln des Grossvaters federt den Zorn des Kleinen ab und die Komik zwischen der Bemerkung und dem Sachverhalt tut das ihre. Der Kleine hatte so ganz beiläufig und auf eine interessante Weise gelernt, dass man sich im Leben nicht mit Stärkeren anlegen soll.
Mit einem traditionelles Milieu meine ich Dörfer, in denen eine überwiegende