Laufet, so werdet ihr finden. Meike Scharff

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Laufet, so werdet ihr finden - Meike Scharff

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Kurz vor meiner Abreise habe ich ein Zitat von ihm gelesen:

      „Es kommt darauf an, die Momente im Leben zu erkennen, an denen man alles ändern kann. Habe keine Angst und verlasse die Komfortzone.“ Dass Coelho ebenfalls den Jakobsweg gepilgert ist, wusste ich noch nicht. Ich finde es erstaunlich, wie sich hier alles zusammenfügt.

      Da ich wie jedes Jahr in der siebenwöchigen Fastenzeit vor Ostern auf aufputschenden Kaffee verzichte, bestelle ich einen entkoffeinierten Kaffee plus ein Mineralwasser, deute auf einen großen Keks und setze mich mit meiner Zwischenmahlzeit raus. An einem Baum hängt ein Schild: noch 457 Kilometer bis Santiago.

      Ich beschließe, einige SMS mit der Sensationsnachricht des Gästebucheintrages zu verschicken. Als erstes benachrichtige ich meine Freundin, die mir Kerkelings Hörbuch geliehen hat, dann Thomas und meine Eltern.

      Der Wirt kommt kurze Zeit später dazu. Obwohl ich kein Spanisch spreche, verstehe ich, dass er mich auf den Generalstreik morgen hinweist. Es könne einiges geschlossen sein. Wir unterhalten uns ein wenig, und ich wundere mich, woher ich die einzelnen Wortbrocken kenne. Später erst wird mir klar, dass es neben der Ähnlichkeit zum Französischen vermutlich meine verschütteten Lateinkenntnisse sind, die mir die bruchstückhafte Konversation ermöglicht haben. Für eine politische Diskussion über die Ursachen der Wirtschaftskrise reicht es natürlich nicht, wir wechseln ins Französische, können uns aber auch in dieser Sprache nicht gut verständigen.

      Dann trifft ein Lieferwagen ein. Der Wirt begleitet seinen Lieferanten in die Bar. Zehn Minuten später kehrt er mit einem Eis im Mund plus einem weitern für mich in der Hand zurück. Auf einmal kommt mir das alles übertrieben freundlich vor. Vielleicht hat er es auf allein reisende Frauen abgesehen? Bei der Unterhaltung gestern Abend ist auch die Frage nach der Fähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen, aufgekommen. Spontan hätte ich zugestimmt. Aber stimmt das wirklich? Wenn Fremde außerordentlich nett sind, frage ich mich sofort misstrauisch, welchen Vorteil sie wohl ziehen wollen. Hier auf dem Jakobsweg deponiere ich den Rucksack stets in meiner Sichtweite, während andere Pilger ihn auf dem Marktplatz stehen lassen, um unbeschwert in die nächste Straße zu gehen. In Deutschland bin ich schon drei Mal bestohlen worden. Es ist eine berechtigte Frage, ob ich Menschen im ausreichenden Maße vertrauen kann.

      Als ich bezahle, kostet die Bestellung insgesamt zwei Euro. Ich verabschiede mich gerührt. Die Unterhaltung ist sehr schön gewesen, und der Wirt hat keine Anstalten gemacht, mir näher zu kommen. Er war einfach nur ohne Hintergedanken freundlich.

      Eine gute halbe Stunde verbringe ich anschließend damit, nach einem Laden zu suchen, der Briefmarken verkauft. Ich erkundige mich in einem Mini-Supermarkt, der Verkäufer deutet in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Anschließend frage ich in einem Restaurant nach, wo mir stolz Postkarten präsentiert werden. Erst nachdem ich auf meiner Suche zum dritten Mal an der Kirche vorbei komme, lande ich schließlich in dem Laden des älteren Herrn, bei dem ich schon vormittags gewesen bin. Auch Briefmarken gehören zu seinem Sortiment. „Ah, peregrina!“, ruft er, das heißt Pilgerin.

      Ich verstehe die anschließende Frage, wie es mir geht, lächle als Antwort und bezahle die Briefmarken. Er verabschiedet sich mit „Buen Camino“.

      Ich kehre noch einmal zurück, wieder begrüßt mich der ältere Herr sehr freundlich. Ich brauche noch einen Kugelschreiber. Dabei vergesse ich meinen Pilgerführer im Geschäft, drehe zwei Minuten später noch einmal um, worauf ich zum dritten Mal freundlich mit „Hola“ – Hallo - begrüßt werde. Der alte Mann gefällt mir. Wie viele andere ältere Männer am Rande des Caminos wirkt er sehr erfreut, mich zu sehen und ist einer kurzen Unterhaltung trotz aller Sprachbarrieren nicht abgeneigt. Ich genieße die männliche Aufmerksamkeit, die mir diesmal zweifelsfrei väterlicher Natur zu sein scheint.

      Gegen 20 Uhr wähle ich in einem Restaurant aus einer Speisekarte mit vielen Fotografien eine Gemüsepaella. Vermutlich handelt es sich um Tiefkühlkost. Sie schmeckt in etwa so, wie die Reis-Gemüse-Pfanne aus meinem Bio-Supermarkt. Ich hole einige aus dem Zeit-Magazin herausgerissene Blätter hervor und lese die Seite mit dem Interview des Harry-Potter-Darstellers Daniel Radcliffe, der über seinen Ruhm zu trinken begonnen hat. Ich staune, wie lange meine Loseblattsammlung vorhält. Zu Hause lese ich viel, hier komme ich kaum dazu. Für das Interview mit Wolfgang Niedecken, dem Sänger von BAP, der kürzlich einen Gehirnschlag erlitten hat, habe ich die letzten drei Tage gebraucht.

      Gegen 21 Uhr kehre ich in mein Zimmer zurück und freue mich darauf, früh ins Bett zu gehen. Beim Auspacken stelle ich jedoch fest, dass meine lange Unterhose, die ich als Schlafanzughose und als Unterziehhose benutze, weg ist. Ich erinnere mich daran, dass ich sie bei der Schnellumziehaktion heute Vormittag auf eine Mauer gelegt habe. Das ist hier in der Stadt gewesen, also sause ich mit meiner Taschenlampe dorthin. Leider liegt sie dort nicht mehr. Von wegen „auf dem Camino geht nichts verloren“! Wo finde ich hier Ersatz? Angeblich bekommt der Pilger ja alles, was er braucht. Soll ich darauf vertrauen? Ich beschließe, optimistisch zu sein. Eine andere Wahl bleibt mir ohnehin nicht. Diese Nacht schlafe ich in meiner Wanderhose.

       Tag 5 - 29. März 2012: Castrojeriz

      Beim Aufwachen bin ich zuversichtlich, dass ich heute eine Ersatzhose bekomme - ich werde nochmal den Herren in seinem Pilgereibedarfladen besuchen. Mein Magen knurrt. Heute soll der Generalstreik sein, wer weiß, ob ich unterwegs überhaupt eine Mahlzeit bekomme. Ich begebe mich in den Frühstücksraum und freue mich, an Tisch und Stuhl statt wie gestern am Tresen essen zu können. Das in meinen Augen üppige Frühstück besteht aus den üblichen getoasteten Baguettescheiben, zwei Sorten Marmelade, einem Joghurt und einem Glas Organgensaft. Dazu trinke ich einen Pfefferminztee. Dann fällt mir auf, dass ich dieselbe Zusammenstellung am ersten Tag noch als karg bezeichnet habe. Drei Tage ist das her - so schnell habe ich mich umgewöhnt!

      Durch die Eingangstür tritt ein älterer Mann mit einem weißen Bart und langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Sein Gepäck besteht nur aus einem kleinen Stoffbeutel, den er diagonal über die Schulter trägt. Der Wirt begrüßt ihn freundlich und serviert ihm einen Kaffee. Ich halte kurz beim Essen inne – das muss einer der sogenannten Dauerpilger sein. John hatte mir erzählt, dass es Menschen gibt, die der Jakobsweg nicht mehr loslässt, sodass sie ihn permanent rauf und wieder runter laufen. Vielleicht hat er selber, der sich als Jakobsweg-süchtig bezeichnet, die Befürchtung, so zu werden. In Hape Kerkelings Buch kommen diese Menschen auch vor. Hape sieht sie aber weniger romantisch – er nennt sie Bettler.

      Nach dem Frühstück besuche ich erst mal ohne Gepäck den kleinen Laden. Der ältere Herr umarmt mich zur Begrüßung. Erfreut, aber nicht überrascht, erwidere ich die Umarmung. Da alle Pilger immer nur vorbeiziehen, ist es in diesem Jahr bestimmt das erste Mal, dass eine Nicht-Einheimische ihn nun schon zum fünften Mal besucht. Ohnehin beginnt die Pilgersaison gerade erst. Hochsaison ist erst im Mai. Ich zeige auf meine Hose, worauf er mir sein Sortiment an Wanderhosen präsentiert. Eine lange Unterhose oder Leggings hat er nicht im Programm. Dann nehme ich eben eine Wanderhose als Schlafanzughose - vielleicht kann ich die noch mal anderweitig verwenden. Beim Bezahlen schenkt er mir eine Anstecknadel von Castrojeriz.

      Zurück im Hostal packe ich meine Sachen ein, begleiche meine Zimmerrechnung und mache mich auf den Weg. Es ist heute wieder heiß - der Lehmpfad geht steil bergauf. Mich überholt ein Strom von Pilgern. Ich zähle sie nicht, aber es scheint eine ganze Herberge voll zu sein. Wahrscheinlich sind sie ein oder zwei Orte vor mir gestartet.

      Bald wird mein Wasser knapp - hoffentlich kann ich meine Flaschen in absehbarer Zeit wieder auffüllen! Ich habe immer mindestens einen Liter Wasser dabei. Noch mehr Sorgen machen mir die Schmerzen im linken Unterschenkel. Wegen der Blasen habe ich gestern den linken Fuß wohl etwas schief aufgesetzt, jetzt scheinen die Bänder überreizt zu sein. Hoffentlich wird es keine Sehnenscheidenentzündung!

      Ich

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