Der asiatische Archipel. Ludwig Witzani
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Am nächsten Tag war ich von morgens bis abends in Singapur unterwegs. Ich wunderte mich über die optimale Organisation des U-Bahn-Verkehrs, über die Sauberkeit auf den Gleisen und die zurückhaltende Höflichkeit der Menschen, wenngleich mir auffiel, dass sie nicht eigentlich fröhlich daherkamen. In Bangkok und mehr noch in Delhi oder Bombay war es erheblich dreckiger, trotzdem schien die Laune der Menschen viel besser zu sein als in dieser wie blankgeleckten Stadt. Sich immer nur an die Regeln zu halten, die zugleich eisern überwacht wurden, war gut für das Niveau der öffentlichen Ordnung, machte aber offenbar individuell wenig Freude.
Das erste, was ich von Singapur sah, als ich aus der U- Bahn stieg, war das Denkmal für die Toten des Zweiten Weltkrieges: ein schmuckloser Obelisk, der von den ihn umgebenden Hochhäusern überragt wurde. Besser konnte man die Bedeutungslosigkeit solcher Denkmäler kaum darstellen. Die implizite Nachricht lautete: So schlimm konnte der Krieg ja wohl nicht gewesen sein, wenn schon eine Generation später neu erbaute Wolkenkratzer seine Denkmäler turmhoch überragten.
An diesem Vormittag lag ein wolkenfreier Himmel über Singapur, und obwohl es noch lange nicht Mittag war, entfaltete die Sonne bereits ihre Kraft. Wer hatte gesagt, dass das exakte Entfernungsmaß zwischen zwei Punkten in Singapur die Menge Schweiß sei, die man auf dem Weg von A nach B vergoss? So gut ich konnte, wich ich ins gekühlte Unterirdische aus. Geführt von einem indischstämmigen Straßenkehrer lief ich fast einen ganzen Kilometer durch schlauchartige U-Bahn-Zubringer und Malls, bis ich kurz vor der Marina Bay wieder das Licht des Tages erreichte. Mein zufälliger Führer hieß Ramin und war ein Tamile, der als junger Mann nach Singapur gekommen war. Er hatte in der Nachtschicht diverse U-Bahnhöfe gereinigt und befand sich nun auf dem Heimweg in die Vorstadt, wo er mit seiner Frau und vier Kindern lebte. Zweimal kamen wir auf unserem langen Weg durch die unterirdischen Verbindungsstraßen an schlafenden Obdachlosen vorüber, die es inzwischen also auch in Singapur gab. „Lange werden sie dort nicht liegenbleiben“, meinte Ramin. „Bald wird die Polizei kommen und sie wegjagen.“
Als ich kurz vor der Marina Bay die unterirdischen Tunnel verließ, traf mich der Anblick des umgestalteten Stadtzentrums wie ein Schock. Rund um eine direkt mit dem Meer verbundene Bucht war in den letzten 15 Jahren ein städtebauliches Ensemble der Sonderklasse entstanden, das in Asien seinesgleichen suchte. An der meereszugewandten Seite erhob sich das Bay Sands Hotel mit seinen drei fünfundfünfzigstöckigen Hochhäusern. Auf deren Dächern war über alle drei Häuser hinweg ein über hundert Meter langes steinernes Boot positioniert worden war, eine Arche Noah der Postmoderne, die auf dem Untergrund hypermoderner Architektur in eine ungewisse Zukunft steuerte. Ein neues Traumbild der Urbanität war geboren worden, eine überdimensionale Weltbarke, die in ihrem mittleren Teil von einem palmengesäumten Swimmingpool aus einen Blick über die gesamte Sechsmillionenstadt und das Meer erlaubte. Unterhalb des Bay Sands Hotels befand sich eine Mall und das Museum für Moderne Kunst, ein echter Augenöffner, denn es war als eine steinerne, sich entfaltende Blüte gestaltet, die sich hochhausgroß über dem Wasser der Bay erhob.
Beim Anblick der Marina Bay wurde mir klar, dass es ein Ausmaß an Stadtveränderung gab, dass alle früheren Besuche hinfällig machte. Aber hatte sich Singapur nicht schon immer permanent verwandelt, vielleicht nicht unbedingt ins Schönere, aber auf jeden Fall ins Effektivere? Singapur die „Löwenstadt“, war der Legende nach schon im 14. Jahrhundert gegründet worden. In Wirklichkeit aber hatte die relevante Geschichte der Stadt erst in dem Augenblick begonnen, als der britische Kolonialbeamte Stanford Raffles im Jahre 1811 seinen Fuß auf die unbedeutende Insel vor der malaiischen Stadt Johore gesetzt hatte. Raffles erkannte die exzellente strategische Lage der Insel und sorgte dafür, dass sie zu einem britischen Stützpunkt wurde, genauer gesagt: zu einem der Sprungbretter, von dem aus die Briten im 19. Jahrhundert Schritt für Schritt die Vorherrschaft und Kontrolle über die malaiische Halbinsel gewannen. Unter britischer Kolonialverwaltung erbauten Chinesen, Malaien und Inder eine staunenswerte Metropole, nicht Asien und nicht Europa, sondern ein drittes, das sein Anderssein bis in die Gegenwart erhalten sollte. Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1963 war Singapur schon im Jahre 1965 aus der malaysischen Konföderation ausgetreten, um sich in einer damals scheinbar aussichtslosen Kleinstaatlichkeit einzurichten. Doch dieser Kleinstaat gedieh gegen alle Wahrscheinlichkeit. Singapur wurde als Drehkreuz des Welthandels zu einem der asiatischen Tigerstaaten und hat inzwischen längst einen Großteil der europäischen Konkurrenten hinter sich gelassen. Der „Vater“ dieses staunenswerten Wirtschaftswunders, der Chinese Lee Yuan Kew, war im Jahre 2015 gestorben. Seine „asiatischen Werte“, d. h. die Verbindung von extremer Leistungsbereitschaft und Meritokratie, verbunden mit einer notfalls staatlich erzwungenen Gemeinwohlorientierung, hatten Singapur zu einer der wohlhabendsten Städte der Welt aufsteigen lassen. Nun hatte die Stadt das Stadium der bloßen Effektivität verlassen und war auch noch attraktiv geworden.
So nahe und plastisch der Gesamtanblick der Marina Bay mir an diesem Vormittag vor Augen stand, so kostete es mich einen langen Fußmarsch und beträchtliche Mengen Schweiß, ehe ich hinter dem Museum für Moderne Kunst den Eingang zum Bay Sands Hotel erreichte. Die gute Nachricht war, dass die Kosten für eine Übernachtung in diesem Hotel keineswegs so astronomisch hoch waren, wie ich erwartet hatte. Im Rahmen von Spezialangeboten war eine Übernachtung mitunter schon für etwa 200 Dollar zu buchen. Die schlechte Nachricht war, dass jeder Besucher, der nicht im Hotel logierte, für das Betreten des Oberdecks die stolze Summe von 25 Singapur Dollar berappen musste.
Wie erwartet war das Observation-Deck bewusst schmucklos und ohne Schatten konzipiert, damit sich die Besucher nicht zu lange auf dem Aussichtsdach aufhielten. Der Einzigartigkeit der Aussicht tat das jedoch keinen Abbruch. Nach Süden hin sah man eine unübersehbare Anzahl von Schiffen, die auf ihre Abfertigung im Hafen von Singapur warteten. Die Umrisse des Hafens waren im Westen nur undeutlich zu erkennen, nur daran, dass er riesig war, konnte auch aus der Entfernung kein Zweifel bestehen. Neben Shanghai und Hongkong gehörte der Hafen von Singapur zu den größten Häfen der Welt. Gemessen am Frachtgutumschlag war er über viermal so groß wie der der Hamburger Hafen.
Gleich unterhalb des Bay Sands Hotels befand sich meerwärts der „Garden of the Bay“, ein in den letzten Jahren neu eingerichteter Ökopark, der Singapurs Ruf als „grüne Stadt“ begrün(d)en sollte. Seine Hauptattraktionen waren die sogenannten „Superbäume“ aus Stahl und Beton, die in einer Größe von über 25 Metern nicht nur als vertikale Gärten sondern auch als Regenwasserspeicher und Standort für Solarzellen dienten. Gleich neben den Superbäumen befanden sich zwei futuristisch anmutende Gewächshäuser, in denen Pflanzenarten aus allen Kontinenten gepflegt wurden.
Stadteinwärts wanderte der Blick über die Marina Bay hinweg auf die andere, urbane Seite der Bucht zum „Merlion“, dem wasserspeienden Steinlöwen vor dem Fullterton Hotel und der Skyline der City von Singapur. Halb im Dunst des Gegenlichts verschwammen die Hochhauswälder an der Peripherie der Stadt, die Heimat des größten Teils der fast sechs Millionen Menschen, die auf der gerade mal siebenhundert Quadratkilometer großen Insel lebten. Mag Singapur auch eine der dereguliertesten und somit dynamischsten Volkswirtschaften der Welt sein, so ist der Wohnungsmarkt in Singapur fest in staatlicher Hand. Über achtzig Prozent der Einwohner Singapurs bewohnen staatlich subventionierten Wohnraum, der regelmäßig erneuert und umwelttechnisch optimiert wird.
Den Rest des Tages setzte ich mich in Busse und U-Bahnen und fuhr kreuz und quer durch Singapur. Zuerst vom Süden nach Norden, dann soweit es mir möglich war, die Stadtränder entlang. Denn der zivilisatorische Rang einer Stadt erweist sich nicht so sehr in ihrem Zentrum als an ihrer Peripherie. Am Rande der urbanen Gebilde lösen sich die Formen auf, als besäßen die Regeln, die das Zentrum der Stadt beherrschen, an ihren Rändern keine Geltung mehr. Nicht so in Singapur. An den Stadträndern waren