Novellen und Erzählungen. Stefan Zweig
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So dachte die Erika Ewald manchmal und lächelte über das Leben. Denn sie wußte nicht, daß auch der Glaube an diesen großen Frieden nur eine Sehnsucht ist, das innigste und unvergänglichste Begehren, das uns nicht zu uns selbst gelangen läßt. Sie glaubte ihre Liebe überwunden zu haben und dachte ihrer, wie man eines Toten gedenkt. Die Erinnerungen bekamen milde, versöhnliche Farben, vergessene Episoden tauchten wieder auf, und zwischen Wirklichkeit und sanfter Träumerei liefen geheime, verbindende Fäden hin und her, bis sie sich unlöslich verwirrt hatten. Denn sie träumte von ihrem Erlebnis wie von einem eigenartigen und schönen Roman, den man vor langem gelesen; seine Gestalten treten langsam wieder heran und sprechen die Worte, die bekannt sind und doch so ferne, alle Räume werden wieder sichtbar, wie erleuchtet von einem plötzlichen aufblitzenden Licht, alles ist wieder wie einst. Und Erika dichtete sich in ihren Gedanken, die sich am Abend berauschten, immer wieder neue Abschlüsse dazu, aber sie fand keinen rechten, denn sie wollte ein mildes und versöhnliches Ende voll Hoheit und reifer Entsagung, mit kühlem freundschaftlichem Händereichen und tiefem Verstehen. Langsam gaben ihr diese romantischen Träume den innigen Glauben, daß auch er jetzt ihrer harre und in tausend seligen Schmerzen gedenke, und diese Idee, die sich in ihr allmählich zu einer unbeugsamen Tatsache verdichtete, ließ das Vertrauen immer sicherer sich entfalten, daß alles noch gut werden müsse und daß eine versöhnende, abschließende Konsonanz die seltsam bewegte Melodie ihrer Liebe erlösen müsse.
Nach langen, langen Tagen wagte sich jetzt manchmal ein Lächeln über ihre Lippen, wenn sie ihrer Liebe gedachte mit all ihren bitteren Wunden, die nun vernarben wollten. Denn sie wußte noch nicht, daß ein tiefer Schmerz wie ein finsterer Gebirgsbach ist, der sich unterirdisch, mit unruhvollem Schweigen durch das Gestein wühlt und in ohnmächtigem Zorne lange an ungebahnten Pforten pocht und pocht. Aber einmal zersprengt er die Wand und stürmt mit haltlosem Jubel vernichtend und kraftvergeudend in die blühenden Tale hinab, die sich in heiterem, ahnungslosem Vertrauen gewiegt ...
Es sollte alles anders kommen, als es Erika geträumt. Noch einmal trat die Liebe in ihr Leben, aber sie war anders geworden; nicht mehr so still und mädchenhaft nahte sie mit milden, segnenden Geschenken, sondern wie ein Frühlingssturm, wie eine heiße, begehrende Frau, die brennende Lippen hat und die tiefrote Rose der Leidenschaft im dunklen Haare trägt. Denn die Sinnlichkeit der Männer ist nicht wie die der Frauen; bei jenen glüht sie vom Anbeginn, von den Jahren der ersten Reife, aber zu manchen Mädchen kommt sie vorerst in tausend Verhüllungen und Gestalten. Sie schleicht sich als Schwärmerei ein und als selige Träumerei, als Eitelkeit und ästhetisches Genießen, aber einmal kommt ein Tag, da wirft sie alle Masken von sich und zerreißt die bergenden Hüllen.
Eines Tages war Erika alles bewußt geworden. Kein lautes Ereignis hatte ihr die Erkenntnis abgezwungen und auch kein Zufall. Vielleicht war es ein Traum gewesen mit verwirrenden Lockungen oder ein Buch mit heimlich verführender Gewalt, vielleicht eine ferne Melodie, die sie plötzlich verstanden oder ein fremdes, blühendes Glück – es war ihr nie klar geworden. Sie wußte nur plötzlich, daß sie sich wieder nach ihm sehnte, aber nicht nach gültigen Worten und schweigenden Stunden, sondern nach seinen kraftvollen Armen und nach den heißen Lippen, die einstmals verlangend auf den ihren gebrannt, ohne daß diese ihre stummen, bettelnden Worte verstanden. Vergebens widerstrebte ihre mädchenhafte Scham diesem Bewußtsein; sie suchte der früheren Tage zu gedenken, die nie auch nur ein schwacher Hauch schwüler Sinnlichkeit durchzittert, sie suchte sich vorzulügen, daß diese Liebe schon längst tot und begraben sei, indem sie jenes Abends gedachte, da sie aus seinem Hause mit innerlichem Abscheu geflüchtet. Aber dann kamen Nächte, da sie ihr Blut brennen fühlte von glühendem Begehren und ihre Lippen in die kühlen Kissen sich einknirschen mußten, damit sie nicht stöhnten und seinen Namen hinausschrien in die stumme, mitleidslose Nacht. Und da wagte sie sich nicht länger zu täuschen, und die Erkenntnis machte sie erbeben.
Nun wußte sie auch, daß die dumpfen Wallungen, die sie in allen diesen Tagen empfunden, nicht das Absterben ihrer schönen und hellen Liebe bedeutet hatten, sondern das langsame Keimen dieser drängenden Gewalten, die nun ihre Seele durchwühlten. Und mit sonderbarer Scheu dachte sie dieser Neigung, die so schlicht und alltäglich gewesen war, und der doch unablässig neue Schmerzen entsprossen, die feindlichen Kinder eines dunklen Geschickes. In dieser Leidenschaft, welche wie ein später Herbst gekommen war, der seine Früchte in die leeren, fröstelnden Felder wirft, einte sich die Kraft der Unberührtheit mit der Fülle der unverbrauchten Jugendtage, die nie unter den drängenden Krisen des Blutes gelitten. Eine stürmische, siegende Gewalt war in ihr, gegen die es kein Widerstreben gab und kein Verweigern, weil sie über alle Schranken sprang und die letzte Überlegung ertötete.
Erika ahnte noch nicht, wie schwach sie gegen diese jähe Leidenschaft war. Sie fühlte nur das Verlangen in sich siegreich werden, daß sie ihn wieder sehen müsse, sei es auch nur von der Ferne, ganz von fern, ohne bemerkt zu werden, ohne daß auch eine Ahnung ihn überkommen könne, daß sie ihn sehe und ersehne. Sie holte sich wieder seine Photographie hervor, die in einer versteckten Lade beinahe verstaubt war und brachte ihr eine sonderbare Verehrung entgegen. Sie küßte in glühender Leidenschaft seinen Mund, dann stellte sie sie wieder vor sich hin und begann wirre und heftige Worte zu sprechen, die sie ihm selbst sagen wollte, daß er ihr verzeihen möge, weil sie damals kindisch und erschreckt gehandelt habe. Und dann erzählte sie ihm in sich übereilenden Sätzen von ihrer Sehnsucht, und wie sie ihn wieder unendlich liebe, mehr, als er es jemals werde verstehen können. Aber alle diese Ekstasen befriedigten sie nicht, denn sie wollte ihn selbst wiedersehen. Mehrere Tage lang wartete sie an den Ecken der Straßen, die er zu passieren pflegte, doch vergebens. Und so sehr steigerte sich ihre Ungeduld, daß manchmal, aber ganz furchtsam und unbestimmt, der Gedanke in ihr erwachte, sie sollte zu ihm in die Wohnung gehen und sich für ihr Benehmen von damals entschuldigen. Aber da fand sie in den Tagesblättern die Notiz, daß er nächstens in einem eigenen Konzert auftreten wolle, eine Nachricht, die Erika wie mit einem seligen Rausche erfüllte, denn nun ergab sich die beste Möglichkeit, ihn zu sehen, ohne daß er es ahnte. Und langsam, furchtbar langsam verflossen ihr die Tage, welche sie von dem festgesetzten, sehnlichst herbeigewünschten Abende trennten.
Erika war eine der ersten im großen, mit tausend Lichtern flimmernden Konzertsaale. Eine sehnsüchtige Unruhe, die Minuten zu Stunden dehnte, hatte sie seit Tagesanbruch erfüllt und durchschauert, seit jener Stunde, da der Gedanke, daß sich heute alles begeben müsse, ihr den Schlaf von den Lidern riß. Und dann war sie alle die Stunden durch Traumland gegangen, ob auch die einzelnen Forderungen ihres Berufes sie immer wieder aufschrecken ließen aus ihren sinnenden Erwartungen und ihrer sanftruhenden Sehnsucht. Und als der Abend kam, nahm sie ihr bestes Gewand und legte es mit einer gewissen feierlichen Sorgfalt an, die nur Frauen haben, wenn sie den Blick des Geliebten erwarten. Eine Stunde zu früh begab sie sich zum Konzertsaal. Wohl hatte sie zuerst einen Spaziergang geplant, ein kurzes Rasten für ihre Nerven, die zu fiebern schienen, aber kaum daß sie die Straße betrat, fühlte sie eine dunkle Gewalt, die sie magnetisch einer Richtung zudrängte. Ihre anfangs bedächtigen Schritte wurden unruhiger und beschleunigter. Und mit einem Male stand sie, fast selbst überrascht, vor den breiten Stufen des Konzertgebäudes und schämte sich ihrer Unrast. Gedankenlos ging sie noch ein wenig dort auf und ab. Und als die ersten Wagen behäbig vorrasselten, mühte sie sich nicht mehr länger, sich zu bezwingen und ging mit beherzter Miene in den eben erleuchteten Saal.
Nicht lange blieb drinnen dieses breite und leere Schweigen, das zu fürchtigen Träumen lud. Dichter und dichter drängten sich die Leute. Erika sah nicht die einzelnen, sondern fühlte nur die hereinströmende Masse, fühlte vor ihren Augen die wandernden Streifen der farbigen Toiletten, das dunkle Durcheinanderschieben und die vielen wechselnden Gesichter, die ihr wie Masken schienen. Alles in ihr war Unrast und Erwartung. In ihren