Die Welt von gestern. Stefan Zweig
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Über diese ›Theatromanie‹ der Wiener, die wirklich mit ihrer Nachspürerei nach den winzigsten Lebensumständen ihrer Lieblinge manchmal ins Groteske ausartete, war zu spotten keineswegs schwer, und unsere österreichische Indolenz im Politischen, das Zurückbleiben im Wirtschaftlichen gegenüber dem resoluten deutschen Nachbarreich mag tatsächlich zum Teil dieser genießerischen Überschätzung zuzuschreiben sein. Aber kulturell hat diese Überwertung der künstlerischen Geschehnisse etwas Einzigartiges gezeitigt – eine ungemeine Ehrfurcht vorerst vor jeder künstlerischen Leistung, dann in ihrer jahrhundertelangen Übung ein Kennertum ohnegleichen und dank dieses Kennertums wiederum schließlich ein überragendes Niveau auf allen kulturellen Gebieten. Immer fühlt sich der Künstler dort am wohlsten und zugleich am angeregtesten, wo er geschätzt und sogar überschätzt wird. Immer erreicht Kunst dort ihren Gipfel, wo sie Lebensangelegenheit eines ganzen Volkes wird. Und so wie Florenz, wie Rom in der Renaissance die Maler an sich heranzog und zur Größe erzog, weil jeder fühlte, daß er in einem ständigen Wettstreit vor der ganzen Bürgerschaft die andern und sich selbst ununterbrochen übertreffen mußte, so wußten auch die Musiker, die Schauspieler in Wien um ihre Wichtigkeit in der Stadt. In der Wiener Oper, im Wiener Burgtheater wurde nichts übersehen; jede falsche Note wurde sofort bemerkt, jeder unrichtige Einsatz, jede Kürzung gerügt, und diese Kontrolle nicht etwa nur bei den Premieren durch die professionellen Kritiker geübt, sondern Tag für Tag durch das wachsame und durch ständiges Vergleichen geschärfte Ohr des ganzen Publikums. Während im Politischen, im Administrativen, in den Sitten alles ziemlich gemütlich zuging, und man gutmütig gleichgültig war gegen jede ›Schlamperei‹ und nachsichtig gegen jeden Verstoß, gab es in künstlerischen Dingen keinen Pardon; hier war die Ehre der Stadt im Spiel. Jeder Sänger, jeder Schauspieler, jeder Musiker mußte ununterbrochen sein Äußerstes geben, sonst war er verloren. Es war herrlich, in Wien ein Liebling zu sein, aber es war nicht leicht, Liebling zu bleiben; ein Nachlassen wurde nicht verziehen. Und dieses Wissen um das ständige und mitleidlose Überwachtsein zwang jedem Künstler in Wien sein Äußerstes ab und gab dem Ganzen das wunderbare Niveau. Jeder von uns hat von diesen Jugendjahren ein strenges, ein unerbittliches Maß für künstlerische Darbietung in sein Leben mitgenommen. Wer in der Oper unter Gustav Mahler eisernste Disziplin bis ins kleinste Detail, bei den Philharmonikern Schwungkraft mit Akribie als selbstverständlich verbunden gekannt, der ist eben heute selten von einer theatralischen oder musikalischen Aufführung voll befriedigt. Aber damit haben wir gelernt, auch gegen uns selbst bei jeder Kunstdarbietung streng zu sein; ein Niveau war und blieb uns vorbildlich, wie es in wenigen Städten der Welt dem werdenden Künstler anerzogen wurde. Aber auch tief in das Volk hinab ging dieses Wissen um richtigen Rhythmus und Schwung, denn selbst der kleinste Bürger, der beim ›Heurigen‹ saß, verlangte von der Kapelle ebenso gute Musik wie vom Wirt guten Wein; im Prater wiederum wußte das Volk genau, welche Militärkapelle den meisten ›Schmiß‹ hatte, ob die ›Deutschmeister‹ oder die ›Ungarn‹; wer in Wien lebte, bekam gleichsam aus der Luft das Gefühl für Rhythmus in sich. Und so wie diese Musikalität sich bei uns Schriftstellern in einer besonders gepflegten Prosa ausdrückte, drang das Taktgefühl bei den andern in die gesellschaftliche Haltung und in das tägliche Leben ein. Ein Wiener ohne Kunstsinn und Formfreude war undenkbar in der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft, aber selbst in den unteren Ständen nahm der Ärmste einen gewissen Instinkt für Schönheit schon aus der Landschaft, aus der menschlich heiteren Sphäre in sein Leben mit; man war kein wirklicher Wiener ohne diese Liebe zur Kultur, ohne diesen gleichzeitig genießenden und prüfenden Sinn für diese heiligste Überflüssigkeit des Lebens.
Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme, sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Und kaum verwirklichte sich – außer in Spanien im fünfzehnten Jahrhundert – eine solche Bindung glücklicher und fruchtbarer als in Österreich. Seit mehr als zweihundert Jahren eingesessen in der Kaiserstadt, begegneten die Juden hier einem leichtlebigen, zur Konzilianz geneigten Volke, dem unter dieser scheinbar lockeren Form derselbe tiefe Instinkt für geistige und ästhetische Werte, wie sie ihnen selbst so wichtig waren, innewohnte. Und sie begegneten sogar noch mehr in Wien; sie fanden hier eine persönliche Aufgabe. In dem letzten Jahrhundert hatte die Kunstpflege in Österreich ihre alten traditionellen Hüter und Protektoren verloren: das Kaiserhaus und die Aristokratie. Während im achtzehnten Jahrhundert Maria Theresia ihre Töchter von Gluck in Musik unterweisen ließ, Joseph II. mit Mozart dessen Opern als Kenner diskutierte, Leopold III. selbst komponierte, hatten die späteren Kaiser Franz II. und Ferdinand keinerlei Interessen an künstlerischen Dingen mehr, und unser Kaiser Franz Joseph, der in seinen achtzig Jahren nie ein Buch außer dem Armeeschematismus gelesen oder auch nur in die Hand genommen, bezeigte sogar eine ausgesprochene Antipathie gegen Musik. Ebenso hatte der Hochadel seine einstige Protektorstellung aufgegeben; vorbei waren die glorreichen Zeiten, da die Esterházys einen Haydn beherbergten, die Lobkowitz und Kinskys und Waldsteins wetteiferten, in ihren Palästen die Erstaufführung Beethovens zu haben, wo eine Gräfin Thun sich vor dem großen Dämon auf die Knie warf, er möge den ›Fidelio‹ nicht von der Oper zurückziehen. Schon Wagner, Brahms und Johann Strauß oder Hugo Wolf fanden bei ihnen nicht mehr die geringste Stütze; um die philharmonischen Konzerte auf der alten Höhe zu erhalten, den Malern, den Bildhauern eine Existenz zu ermöglichen, mußte das Bürgertum in die Bresche springen, und es war der Stolz, der Ehrgeiz gerade des jüdischen Bürgertums, daß sie hier in erster Reihe mittun konnten, den Ruhm der Wiener Kultur im alten Glanz aufrechtzuerhalten. Sie liebten von je diese Stadt und hatten sich mit innerster Seele hier eingewohnt, aber erst durch die Liebe zur Wiener Kunst fühlten sie sich voll heimatberechtigt und wahrhaft Wiener geworden. Im öffentlichen Leben übten sie sonst eigentlich nur geringen Einfluß aus; der Glanz des kaiserlichen Hauses stellte jeden privaten Reichtum in den Schatten, die hohen Stellungen in der Staatsführung waren in ererbten Händen, die Diplomatie der Aristokratie, die Armee und hohe Beamtenschaft den alten Familien vorbehalten, und die Juden versuchten auch gar nicht, in diese privilegierten Kreise ehrgeizig vorzudringen. Mit Taktgefühl respektierten sie diese traditionellen Vorrechte als selbstverständliche; ich erinnere mich zum Beispiel, daß mein Vater es sein ganzes Leben lang vermied, bei Sacher zu speisen, und zwar nicht aus Sparsamkeit – denn die Differenz gegenüber den anderen großen Hotels war lächerlich gering –, sondern aus jenem natürlichen Distanzgefühl: es wäre ihm peinlich oder ungehörig erschienen, neben einem Prinzen Schwarzenberg oder Lobkowitz Tisch an Tisch zu sitzen. Einzig gegenüber der Kunst fühlten in Wien alle ein gleiches Recht, weil Liebe und Kunst in Wien als gemeinsame Pflicht galt, und unermeßlich ist der Anteil, den die jüdische Bourgeoisie durch ihre mithelfende und fördernde Art an der Wiener Kultur genommen. Sie waren das eigentliche Publikum, sie füllten die Theater, die Konzerte, sie kauften die Bücher, die Bilder, sie besuchten die Ausstellungen und wurden mit ihrem beweglicheren, von Tradition weniger belasteten Verständnis überall die Förderer und Vorkämpfer alles Neuen. Fast alle großen Kunstsammlungen des neunzehnten Jahrhunderts waren von ihnen geformt, fast alle künstlerischen Versuche nur durch sie ermöglicht;