ENDE DER BEDENKZEIT. Erhard Schümmelfeder

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denn alle Schüler sollten sich ein Bild von den Schreibkünsten unseres Klassensprechers machen.

      Bald wurde hier und da leise gekichert, und es dauerte eine gewisse Weile, bis Ludger mit gerötetem Kopf seinen Drohbrief erneut in Händen hielt. Von einem Jüngeren vor aller Augen überraschend belehrt zu werden, hatte er nicht erwartet. Düster zerriss er den peinlichen Brief und schob die Fetzen in seine Hosentasche.

      Ein Unbehagen befiel mich. Nun musste ich wirklich in der nahenden Pause mit einem Überfall rech­nen. Bald darauf trat ich zögerlich auf den verschneiten Schulhof. Doch kam es nicht zu einem Konflikt. Offenbar hatte mein schrift­licher Angriff, der bei dem Sitzenbleiber gewiss einen wunden Punkt berührte, seine Wirkung nicht verfehlt. - Ahnungsvoll fragte ich mich, ob Ludger es mir heimzahlen würde, weil ich ihn vor den Klassenkameraden lächerlich gemacht hatte. Der Ausgang dieses Streites war noch nicht entschieden.

      In der nächsten Zeit gingen wir uns aus dem Weg. Der Waffenstillstand hielt an. Bald schon wähnte ich mich sicher. Ich verschwendete keinen Gedanken mehr an den Zwischenfall, bis es nach zwei Wochen erneut zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen Ludger und mir kam. Bei ei­ner nebensächlichen Meinungsverschiedenheit im Treppenhaus unserer Schule ging ich einen Schritt zu weit und zeigte mich in einem harmlosen Zwiegespräch kühn und herablassend-spöttisch. Zu spät bemerkte ich den aufwallenden Zorn in Ludgers Augen. Einen Moment hielt er abschätzend inne, dann stieß er mich brutal gegen das Geländer und schlug zu.

      Die Einsicht, zur Konfliktlösung intelligentere und feinere Mittel als hochmütige Verachtung und brutale Gewalt einzusetzen, kam mir erst Jahre später. In dem Augenblick, nachdem Ludger, dessen Faust meinen Kopf verfehlte, durch den Schwung des eigenen Schlages das Gleichgewicht verlor und über das Geländer in die Tiefe des Treppenhauses stürzte, erlebte ich zuerst ein Gefühl des Triumphes, welches sich sogleich in ein lähmendes Entsetzen verwandelte, als ich begriff, dass der Angriff mit einer Katastrophe endete: Ludger lag zerschmettert hingestreckt auf den Marmorfliesen. Schreckensschreie gellten durch das Gebäude. Schüler und Lehrer eilten herbei. Jemand beugte sich über den verkrümmten Körper, ohne ihn zu berühren, schaute zum Geländer herauf und schüttelte den Kopf. - Dann verwischen sich meine Erinnerungen. Ein Krankenwagen wurde gerufen. Es dauerte lange, bis feststand, dass Ludger den Fall aus acht Metern Höhe überlebt hatte mit Arm-, Bein- und Rippenbruch, Gehirnerschütterung und vielen Blutergüssen.

      Nach diesem Zwischenfall im Treppenhaus, der für eine gewisse Zeit mein Ansehen unter den Mitschülern erhöhte, kam es nie wieder zu einem Streit zwischen uns.

      Seither lese ich Briefe, wie jedermann verstehen wird, mit besonderer Aufmerksamkeit, doch hüte ich mich aus Prinzip davor, Rechtschreibfehler mit Rotstift anzustreichen.

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