Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt

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lesen?«

      »Nein, darum geht es nicht. Dieses Faktum wäre bloß hinzugedacht. Ein häufiger Fehler.

      Was ich meine, ist die reine positive oder negative Gefühlsqualität, ein inneres Phänomen, das nichts mit Sinneswahrnehmungen oder Gedanken zu tun hat.

      Genauso, wie der Schmerz oder die Lust unabhängig sind, obwohl sie sich mit anderen Wahrnehmungen vereinigen können.

      Das Gesicht einer schönen Frau oder der Gedanke daran mit dem Gefühl der Schönheit.

      Wenn du die innere Welt erforschst, wirst du entdecken, dass sich diese inhaltlichen Qualitäten – in unserem Beispiel die Gesichtszüge – mit den Gefühlsqualitäten verbinden und eine dritte, neue Qualität erzeugen.

      Weil die Dinge selbst keinen Wert haben, erreichen sie es durch Teilhabe an der Attraktivität des Gefühls und bereichern dabei das Gefühl mit ihrer Eigenart – durch Farben, Formen, Beziehungen.

      Das ist der genauere Sinn der Redewendung, die Schönheit liege immer im Auge des Betrachters.

      Oder, allgemeiner gefasst, das Glück liege nicht in den Dingen, sondern in der Bewertung durch uns. Und jetzt kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt.

      So entsteht der Anschein der Objektivität! Da wir den inneren Raum selten in dieser Weise inspizieren, da wir nicht in der Lage sind, ohne Übung von den einzelnen Komponenten zu abstrahieren, gaukelt die Natur uns vor, das Gesicht selbst sei schön.«

      »Und weshalb versucht sie das? Wozu spielt die Natur dieses falsche Spiel?«

      »Um uns auf die Wertvorstellungen der Gemeinschaft einzuschwören. Aber diese – angeblich objektiven und allgemeingültigen – Vorstellungen sind nicht nur zweckmäßig, sie haben nicht nur die Funktion, Bräuche, Moden und moralische Verhaltensweisen zu schaffen.

      Sie hindern uns auch an der freien Entfaltung unseres Wesens und unserer Individualität. Sie schaffen Fanatismus und Rechthaberei. Scheinbar objektive Werte sind die tieferen Ursachen für Faschismus und Nationalsozialismus, für Terrorismus und Fundamentalismus.

      Denn ohne als bindend angesehene Ziele gäbe es nur Pluralismus und Abstimmungen, wäre die Toleranz das beherrschende Prinzip unseres Zusammenlebens. Scheinbar objektive Werte waren die geistigen Voraussetzungen für die Ermordung der Juden, um nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte zu nennen.«

      Ich starrte Montag ungläubig an. Die Leichtigkeit, mit der er von einem harmlos erscheinenden inneren Phänomen wie den Gefühlen, die sich mit unseren Wahrnehmungen verbinden, zu den Problemen der Geschichte gelangt war, löste so etwas wie ein Erdbeben in mir aus.

      »Es sind nur Bilder – du erinnerst dich? Projektionen unseres Inneren für verschiedene abstrakte Realitäten, um die unser Leben kreist. Es sind Lügen, mit denen wir uns selbst beschwichtigen und unsere Angst vor der grenzenlosen Vielgestaltigkeit des Lebens besänftigen, die uns in diesem groben Zustand des Bewusstseins erdrücken würde. Primitive Krücken für schlichte Seelen, die noch nicht ganz dem Kindesalter entwachsen sind.«

      10

      Für Anfang Februar war das Wetter erstaunlich sonnig. Der Schnee auf den Eisflächen schmolz. Die Bäume reckten ihre schwarzen Äste in den blauen Himmel. Das Haus in der Stadt erschien mir nicht mehr so schrecklich wie am Anfang, ich hatte die Idylle des alten Felssteinbaus auf dem Lande schon vergessen.

      Ich fuhr mit Anne-Marie Schlitten in den Hügeln südlich der Stadt, wo wir hofften, nicht von Piper überrascht zu werden. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war ein kleines Mysterium für mich. Einerseits schien sie ihn zu bewundern, andererseits war manchmal so etwas wie Verachtung in ihrer Stimme zu spüren, wenn sie über ihn sprach.

      Nach den Schlittentouren tranken wir oft einen heißen Grog im Café der Behindertenschule oberhalb der Bushaltestelle. Das Café war ein Unikum, weil man dort allen Ernstes versuchte, die geistig Zurückgebliebenen in die Gesellschaft einzugliedern. Da saßen nun all die sabbernden, zitternden, blödelnden Jugendlichen und starrten ihre wohlmeinenden Gleichaltrigen an wie Tiere im Zoo. Keine der beiden Parteien wagte sich jemals zur anderen hinüber. Es war, als befinde sich eine Glasscheibe zwischen ihnen.

      Aber die Getränke kosteten nur die Hälfte, und am Kiosk gab es günstige Schallplatten, das machte das Café auch für die Schüler der Umgebung interessant. Wir saßen eng umschlungen auf der geheizten Veranda, weil Piper hier niemals aufkreuzen würde.

      Er hasste – wie Anne-Marie sich ausdrückte – jede Art von »geistigem Gebrechen«, das verursachte ihm Übelkeit. Es war, als müsse die Natur auf diese Weise ihre Niederlage eingestehen.

      Ich erfuhr, dass Piper nicht nur der leibhaftige Teufel war, für den ich ihn immer noch hielt, sondern auch der ehrgeizigste Mensch, den man sich denken konnte.

      »Er betrachtet dich als Konkurrenten«, sagte sie. »Das ist der Grund dafür, dass er dich hasst. Er kann niemanden neben sich ertragen, der mehr auf dem Kasten hat als er.«

      Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Onkel mich kennenlernen sollte. Er sei ein völlig anderer Mensch als Piper und ihr Vater – tolerant, weltgewandt, offen. Er protze nicht mit seinem Geld, aber er könne es sich leisten, den Kindern seines Bruders jeden Wunsch zu erfüllen.

      »Onkel Martin wird dich mögen«, sagte sie und legte ihren Kopf an meine Schulter.

      Aber ich verspürte wenig Lust, ihren Onkel kennenzulernen. Ich stellte mir vor, dass Piper ins Wohnzimmer platzte, wenn wir gerade Kuchen aßen, und das reichte völlig, um mir jeden Spaß daran zu nehmen.

      Außerdem war Rolo seit drei Tagen spurlos verschwunden. Er hatte einen Brief hinterlassen, in dem er sich bitter über Anjas Gemeinheiten beschwerte. Als die Polizei ihn aufgriff, sah er so zerknittert und schwarz aus wie jemand, der seine Nächte im Kohlenkeller verbracht hatte, und hustete, was das Zeug hielt.

      Oberhirte hielt mir eine Standpauke, weil ich mich angeblich zu wenig um meinen Bruder gekümmert hatte.

      »Ich werde an Darmkrebs sterben«, prophezeite er. »Das ist meine Bestimmung. Aber ich werde alles tun, um euch gut versorgt zu wissen, wenn ich abtrete. Dann bis du das männliche Oberhaupt der Familie, Marc. Du musst für Rolo sorgen, versprichst du mir das? Deine Mutter wird sich mit diesem Bodybuilder davonmachen, weil sie nicht in Würde alt werden kann, und Anja landet wahrscheinlich in irgendeinem Bordell, bei ihrem lockeren Lebenswandel.«

      Dass er vom Liebhaber seiner Frau wusste, überraschte mich.

      »Steht es denn so schlimm um deine Verdauung? Ist das ein ärztlicher Befund?«

      »Ich rede nicht von den Ärzten. Die können mir nicht helfen. Mein Darm hat jede Lebenskraft verloren, er bewegt sich nicht mehr«, sagte er und legte sich mit trostloser Gebärde die Hand auf den Unterleib.

      »Aber warum gleich an Krebs denken, Paps?«

      »Weil ich ihn spüre, ich spüre den Krebs in mir …«

      Eigentlich hatte ich nie genügend Gelegenheit gehabt, seinen Charakter zu studieren. Aber jetzt erkannte ich schlagartig, dass sein Kern aus unendlicher Weinerlichkeit bestand, aus tiefreichenden Wellen der Negativität, aus einer Empfindlichkeit, die noch die Sorge in hundert Lichtjahren Entfernung als düstere schwarze Wolke wahrnahm. Herzbaum senior

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