Castellio gegen Calvin. Stefan Zweig

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Castellio gegen Calvin - Stefan Zweig

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es sich, daß Farel doch nur der Typus des unschöpferischen Revolutionärs gewesen, zwar fähig, durch Elan und Fanatismus eine alte Ordnung umzustoßen, doch nicht berufen, eine neue aufzurichten. Farel ist ein Schimpfer, aber kein Gestalter, ein Aufrührer, aber kein Aufbauer; er konnte grimmig Sturm laufen gegen die römische Kirche, die dumpfen Massen aufreizen zum Haß gegen Mönche und Nonnen, er vermochte mit seiner Empörerfaust die steinernen Tafeln des alten Gesetzes zu zerschlagen. Aber ratlos und ziellos steht er vor den Trümmern. Jetzt, da an die Stelle der verdrängten katholischen Religion in Genf eine neue Satzung zu stellen wäre, versagt Farel vollkommen; als bloß destruktiver Geist wußte er nur einen leeren Raum für das Neue zu schaffen, aber niemals kann ein Straßenrevolutionär geistig-konstruktiv gestalten. Mit dem Niederreißen ist seine Tat zu Ende, zum Aufbau muß ein anderer erstehen.

      Nicht Farel allein erlebt damals diesen kritischen Augenblick der Unsicherheit nach einem zu raschen Sieg; auch in Deutschland und in der übrigen Schweiz zaudern die Führer der Reformation uneinig und ungewiß vor der ihnen zugefallenen historischen Aufgabe. Was Luther, was Zwingli ursprünglich durchsetzen wollten, war nichts als eine Reinigung der bestehenden Kirche gewesen, eine Rückführung des Glaubens von der Autorität des Papstes und der Konzile auf die vergessene evangelische Lehre. Reformation bedeutete für sie im Sinne des Wortes anfangs wirklich nur reformieren, also verbessern, reinigen, rückverwandeln. Aber da die katholische Kirche starr auf ihrem Standpunkt beharrte und sich zu keinen Konzessionen bereit gefunden, wächst ihnen unvermutet die Aufgabe zu, statt innerhalb nun außerhalb der katholischen Kirche ihre geforderte Religion zu verwirklichen; und sofort, da es vom Destruktiven an das Produktive geht, scheiden sich die Geister. Selbstverständlich wäre nichts logischer gewesen, als daß die religiösen Revolutionäre, daß Luther, Zwingli und die andern Reformationstheologen sich brüderlich auf eine einheitliche Glaubensform und Praxis der neuen Kirche geeinigt hätten; aber wann setzt sich jemals das Logische und Natürliche in der Geschichte durch? Statt einer protestantischen Weltkirche erstehen überall Einzelkirchen; Wittenberg will nicht die Gotteslehre von Zürich und Genf wieder nicht die Gebräuche Berns übernehmen, sondern jede Stadt will ihre Reformation auf ihre zürichsche, bernische und genferische Art; schon in jener Krise spiegelt sich der nationalistische Eigendünkel der europäischen Staaten im Verkleinerungsglas des Kantongeistes prophetisch voraus. In kleinen Zänkereien, in theologischen Haarspaltereien und Traktaten vergeuden Luther. Zwingli, Melanchthon, Bucer und Karlstadt, sie alle, die gemeinsam den Riesenbau der Ecclesia Universalis unterhöhlten, nun ihre beste Kraft. Völlig ohnmächtig aber steht Farel in Genf vor den Trümmern der alten Ordnung, ewige Tragik eines Menschen, der die ihm zubestimmte historische Tat vollbracht hat, aber sich ihren Folgen und Forderungen nicht mehr gewachsen fühlt.

      Eine Glücksstunde ist es darum für den tragischen Triumphator, als er durch Zufall erfährt, Calvin, der berühmte Jehan Calvin, halte sich auf der Durchreise von Savoyen für einen Tag in Genf auf. Sofort besucht er ihn in seinem Gasthofe, um sich von ihm Rat zu holen und seine Hilfe für das Werk des Aufbaus zu erbitten. Denn obzwar beinahe zwanzig Jahre jünger als Farel, gilt dieser Sechsundzwanzigjährige bereits als eine unbestrittene Autorität. Sohn eines bischöflichen Zolleinnehmers und Notars, zu Noyon in Frankreich geboren, in der strengen Schule des Kollegiums von Montaigu (ebenso wie Erasmus und Loyola) erzogen, erst für den Priesterstand und dann zum Juristen bestimmt, hatte Jehan Calvin (oder Chauvin) mit vierundzwanzig Jahren wegen seiner Parteinahme für die lutherische Lehre aus Frankreich nach Basel flüchten müssen. Aber ihm wird im Gegensatz zu den meisten, die mit der Heimat auch die innere Kraft verlieren, Emigration zum Gewinn. Gerade in Basel, dieser Wegkreuzung Europas, wo sich die verschiedenen Formen des Protestantismus begegnen und befeinden, begreift Calvin mit dem Genieblick des weitdenkenden Logikers die Notwendigkeit der Stunde. Schon sind vom Kern der evangelischen Lehre immer radikalere Thesen abgesplittert, Pantheisten und Atheisten, Schwärmer und Zeloten beginnen den Protestantismus zu entchristlichen und zu überchristlichen, schon vollendet sich mit Blut und Grauen in Münster die schauervolle Tragikomödie der Wiedertäufer, schon droht die Reformation in einzelne› Sekten zu zerfallen und national zu werden, statt sich zu einer Universalmacht zu erheben gleich ihrem Widerpart, der römischen Kirche. Gegen solche Selbstzersplitterung muß, dies überblickt der Vierundzwanzigjährige mit seherischer Sicherheit, rechtzeitig eine Zusammenfassung gefunden werden, eine geistige Kristallisierung der neuen Lehre in einem Buch, einem Schema, einem Programm; ein schöpferischer Grundriß des evangelischen Dogmas muß endlich entworfen werden. So zielt dieser unbekannte junge Jurist und Theologe mit der herrlichen Verwegenheit der Jugend vom ersten Augenblick an, während die eigentlichen Führer noch um Einzelheiten quengeln, entschlossen auf das Ganze und schafft in einem Jahr mit seiner ›Institutio religionis Christianae‹ (1535) den ersten Grundriß der evangelischen Lehre, das Lehrbuch und Leitbuch, das kanonische Werk des Protestantismus.

      Diese ›Institutio‹ ist eines der zehn oder zwanzig Bücher der Welt, von denen man ohne Übertreibung sagen darf, daß sie den Ablauf der Geschichte bestimmt und das Antlitz Europas verändert haben; seit Luthers Bibelübersetzung das wichtigste Tatwerk der Reformation, hat sie von der ersten Stunde bei den Zeitgenossen durch ihre logische Unerbittlichkeit, ihre konstruktive Entschlossenheit entscheidenden Einfluß geübt. Immer braucht eine geistige Bewegung einen genialen Menschen, der sie beginnt, und einen genialen, der sie beendet. Luther, der Inspirator, hat die Reformation ins Rollen gebracht, Calvin, der Organisator, sie aufgehalten, ehe sie in tausend Sekten zerschellte. In gewissem Sinne schließt die Institutio darum die religiöse Revolution so ab, wie der Code Napoleon die französische: beide ziehen, indem sie den Schlußstrich setzen, ihre Summe, beide nehmen sie einer strömenden und überströmenden Bewegung das Feurigflüssige ihres Anfangs, um ihr die Form des Gesetzes und der Stabilität aufzuprägen. Aus Willkür ist damit Dogma, aus Freiheit Diktatur geworden, aus seelischer Erregtheit eine harte geistige Norm. Freilich: wie jeder Revolution, wenn sie innehält, geht auch dieser religiösen auf dieser letzten Stufe etwas von ihrer ursprünglichen Dynamik verloren; aber als geistig geeinte Weltmacht steht von nun ab der katholischen Kirche eine protestantische entgegen.

      Es gehört zur Kraft Calvins, daß er die Starre seiner ersten Formulierung niemals gelindert oder geändert hat; alle späteren Ausgaben seines Werkes bedeuten fortan nur Erweiterung, aber keine Korrektur seiner ersten entscheidenden Erkenntnisse. Mit sechsundzwanzig Jahren hat er ähnlich wie Marx oder Schopenhauer seine Weltanschauung schon vor aller Erfahrung logisch durchdacht und zu Ende gedacht, alle folgenden Jahre werden nur dazu dienen, seine organisatorische Idee im realen Raume durchzusetzen. Kein wesentliches Wort wird er mehr ändern und vor allem sich selber nicht, keinen Schritt wird er zurückweichen und niemandem einen Schritt entgegengehen. Einen solchen Mann kann man nur zerbrechen oder an ihm zerbrechen. Alles mittlere Gefühl für ihn oder gegen ihn ist vergeblich. Es gibt nur eine Wahl: ihn zu verneinen oder sich völlig ihm zu unterwerfen.

      Das spürt – und darin liegt menschliche Größe – Farel sofort bei der ersten Begegnung, bei dem ersten Gespräch. Und obwohl zwanzig Jahre älter, unterordnet er sich von dieser Stunde an vollkommen Calvin. Er anerkennt ihn als seinen Führer und Meister, er macht sich von diesem Augenblick an zu seinem geistigen Diener, zu seinem Untergebenen, zu seinem Knecht. Nie wird Farel in den nächsten dreißig Jahren ein einziges Wort des Widerspruchs gegen den Jüngeren wagen. In jedem Kampf, in jeder Sache wird er seine Partei nehmen, auf jeden Ruf von jedem Ort herbeieilen, um für ihn und unter ihm zu kämpfen. Als erster bietet Farel das Vorbild jenes fraglosen, unkritischen, sich selbst preisgebenden Gehorsams, den Calvin, der Subordinationsfanatiker, in seiner Lehre von jedem Menschen als oberste Pflicht verlangt. Nur eine einzige Forderung hat dagegen Farel in seinem Leben an ihn gestellt, und diese zu dieser Stunde: Calvin möge als der einzige Würdige die geistliche Führung Genfs übernehmen und mit seiner überlegenen Kraft das reformatorische Werk aufbauen, das zu vollenden er selbst zu schwach sei.

      Calvin hat später berichtet, wie lange und wie heftig er sich geweigert habe, diesem überraschenden Rufe Folge zu leisten. Immer wird es für den geistigen Menschen ein verantwortlicher Entschluß, die reine Sphäre des Gedanklichen zu verlassen und in die trübe der Realpolitik einzutreten. Ein solches geheimes Bangen bemächtigt sich auch Calvins. Er zögert, er schwankt, er weist auf seine Jugend, seine

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