Wahlanalyse 2017. Mario Voigt
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Bereits die Wahl vor vier Jahren war bemerkenswert: Es scheiterten nicht nur die Liberalen erstmals seit 1949 bei einer Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde, sondern ebenfalls knapp die AfD. Deshalb entfielen niemals zuvor in der Bundesrepublik so viele abgegebene Wahlstimmen auf Parteien, die dann nicht im Bundestag vertreten waren. Die Wahlbeteiligung eingerechnet, repräsentierte der 18. Deutsche Bundestag nur 59,5 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland. Lässt man die 5-Prozent-Hürde außer Betracht, vereinten die Unionsparteien (41,5 Prozent) gemeinsam mit FDP (4,8 Prozent) und AfD (4,7 Prozent) eine Mehrheit unter den Wählerinnen und Wählern.
Die SPD (25,7 Prozent), LINKE (8,6 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (8,4 Prozent) erreichten gemeinsam gerade einmal 42,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, verfügten jedoch über eine rechnerische parlamentarische Mehrheit (320 Mandate), von der sie genau einmal (!) Gebrauch machten: Im Sommer 2017 bei der Durchsetzung der sogenannten Ehe für alle. Ein solcher Umstand, dass mit etwas mehr als 42 Prozent die praktische Option einer parlamentarischen Regierungsmehrheit entsteht, wird auf absehbare Zeit nicht mehr eintreten. Damit schließt sich ein günstiges Zeitfenster für rot-rot-grün. Im künftigen 19. Deutschen Bundestag werden erstmals seit der Bundestagswahl vom 6. September 1953 wieder sieben Parteien im Parlament vertreten sein.
Der kurze Traum einer Normalisierung des Verhältnisses von SPD und Linkspartei im Schulz-Hype
Der ebenso überraschende Höhenflug und dramatische Abstieg des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz hatte auch für das Verhältnis der SPD zur Linkspartei und die Option Rot-Rot-Grün erhebliche Wirkungen. Zur Erinnerung: In Auswertung der krachenden Niederlage bei der Bundestagswahl 2013 nahm die SPD auf dem Leipziger Parteitag endgültig Abstand davon, eine Regierung mit der Partei DIE LINKE auszuschließen. Das war überfällig und vernünftig. Genützt hatte diese Abgrenzung nur der Union, die in den Parteizentralen von CDU und CSU bisher sicher sein konnten, dass schon die Drohung einer Rote-Socken-Kampagne die SPD von einem Blinken nach links abhalten würde.
Geändert hatte sich freilich auch nach dem Leipziger Parteitag nicht viel. Beide Seiten, sowohl DIE LINKE als auch die SPD pflegten ihr pathologisches Verhältnis weiter wie eh und je. Während DIE LINKE auf Bundesebene die SPD als Hauptgegner in der politischen Auseinandersetzung sah und entsprechend behandelte, zieh die SPD die Linkspartei als realitäts- und politikfern. Ein Irrsinn, wie sich nach der Nominierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat zeigte.
Die SPD erlebte zwischen Januar und April 2017 einen Hype, von dem die Partei nicht nur selbst überrascht, sondern regelrecht euphorisiert wurde. Auf einmal schien alles möglich - mit der Union auf Augenhöhe in den Meinungsumfragen, nach 19 Jahren erneut ein Kanzlerwechsel zugunsten der SPD, sogar ein rot-rot-grünes Bündnis rückte in den Bereich des Realistischen. Der Bundestagswahlkampf, von dem viele politische Beobachter/-innen befürchteten, er würde eine genauso schleppende Partie wie 2013 sein, an deren Ende die vierte Amtszeit der Kanzlerin stünde, kam in Fahrt. Optionen und Alternativen zur Kanzlerin wurden spannend: rot-rot-grün oder Ampel unter SPD-Führung gegen eine CDU-geführte Jamaika-Koalition. Die AfD verlor an Öffentlichkeit, da nicht mehr auf ihrem Tanzfeld nach deren Musik gespielt wurde. Mit dem Ergebnis absinkender Zustimmungswerte in den Meinungsumfragen.
Dass eine SPD-geführte Regierung für eine politische Wende statt für Kontinuität stehen würde, konnte die SPD ab dem Zeitpunkt nicht mehr glaubwürdig vermitteln, als sie sich entschieden hatte, die Option rot-rot-grün faktisch auszuschließen und auf ein Narrativ umschwenkte, nachdem eine solche Koalition Sargnagel eines SPD-Wahlerfolgs sein würde. Es wurde zur wesentlichen Erzählung und strategischen Ausrichtung in den Wahlkampfendspurts von Schleswig-Holstein und NRW und lautet grob, dass die Aussicht auf eine Regierung ohne Union die Unionswähler mobilisiert und die Aussicht auf eine Regierung mit der LINKEN die SPD-Anhänger demobilisiert. Für beide Teile dieser Geschichte gibt es keinerlei belastbare demoskopische Belege, aber sie ist inzwischen so oft aus beiden großen Parteien erzählt und - wichtiger noch - als Voraussetzung für die eigene politische Kommunikation akzeptiert worden, dass sie in der medialen Berichterstattung den Status einer nicht weiter zu hinterfragenden Wahrheit erhalten hat. So nimmt es nicht wunder, dass Rot-Rot-Grün von der Option auf Bewegung im Parteienwettbewerb und eine von mehreren Mitte-Links-Optionen zum altbekannten Wähler/innenschreck mutierte, zu dem R2G seit jeher überhöht wird.
DIE LINKE trug durch einen aggressiven Wahlkampf gegen die SPD zur Verstärkung dieses Narrativs bei und gab BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Gelegenheit, auf die Karte Schwarz-Grün zu setzen, was umso attraktiver wurde, je stärker die Kanzlerin gegenüber Schulz wieder zulegen und als sichere Wahlsiegerin erschien. Im Ergebnis fiel die SPD – wieder einmal – auf einen historischen Tiefstand. Erreichte die Partei bei der Bundestagswahl 2009 nur 23 Prozent, verbesserte sie sich zu 2013 auf 25,7 Prozent. Mit etwas mehr als 20 Prozent kann freilich nicht einmal mehr die Rede davon sein, dass sie im 20-Prozent-Turm gefangen sei. Sie hat es vielmehr gerade noch so hinein geschafft.
Konsequente Entscheidung der SPD für die Opposition – Herausforderung für DIE LINKE
Die noch am Wahlabend verkündete Entscheidung der SPD, ebenso wie nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, nicht erneut für eine Regierungsbildung zur Verfügung stehen, ist angesichts dessen konsequent. Man mag die Frage erörtern, ob eine Partei, die derzeit noch sieben der sechzehn Ministerpräsident/-innen stellt und zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag ist, sich selbst der Sondierung möglicher Koalitionsverhandlungen entziehen kann oder ob es zu ihrer quasi staatspolitischen Verantwortung gehört, die Übernahme der Regierungsgeschäfte zu prüfen. Dafür spricht, dass das Signal, dass von der SPD ausgesendet wird, denjenigen Vorschub leistet, die für reine Wahrheiten statt Differenzierungen und Kompromisse in der politischen Kontroverse eintreten. Gleichzeitig kann dieses Argument nicht so hoch gewichtet werden, dass eine Partei sich aus staatspolitischen Erwägungen, die nicht in einer Staatskrise begründet liegen, selbst zerstören muss.
Die SPD hat 2005 bis 2009 und seit 2013 in Großen Koalitionen sowohl aus eben dieser staatspolitischen Verantwortung und einem mindestens genauso hohen Anteil Überzeugung, dass der Platz der SPD auf der Regierungsbank sei, weil „Opposition Mist ist“, gewirkt. Ein Regierungsauftrag ist aus dem Ergebnis vom 24. September 2017 für die Parteien der Großen Koalition nicht, wohl aber für ein Vier-Parteien-Bündnis aus den Unions-Schwestern, FDP und Grünen abzuleiten. Angesichts dessen und dem historischen Tiefstand beim Wahlergebnis die Einschätzung zu treffen, dass die SPD sich nicht noch in Sondierungen verzwergen, sondern wenigstens auf Basis eigener Entscheidung in die Opposition geht und von dort die Kanzlerin herausfordert und sich selbst versucht, wieder aufzurichten, ist nachvollziehbar und verständlich. Keine andere Partei hätte in gleicher Situation anders gehandelt.
Die künftige Oppositionsarbeit wird für die SPD möglicherweise eine geringere Herausforderung als für DIE LINKE. Denn angesichts einer SPD-Opposition, die doppelt so groß und einer AfD-Opposition, die ein Drittel stärker als die Linksfraktion im Bundestag ist, sollte man sich genau überlegen, ob die Kraft ausreicht, die künftige Jamaika-Koalition herauszufordern, dem Diskurs gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit der AfD wirksam zu begegnen und gleichzeitig weiterhin die SPD als einen Hauptgegner in der politischen Auseinandersetzung zu verstehen und entsprechend mit ihm zu interagieren. Oder ob man angesichts der Gefahr von rechts Schlussfolgerungen aus der deutschen Geschichte zieht und die Grundlagen gemeinsamer Arbeit dergestalt schafft, dass aus der Opposition heraus soziale Gerechtigkeitspolitik spürbar wird. Dies negiert bestehende Unterschiede zwischen den Parteien keineswegs, sondern plädiert nur dafür, die an anderer Stelle beschriebenen pathologischen Konfliktmuster zu überwinden und dabei – im Übrigen – den rot-rot-grünen Gesprächsfaden auch zu Bündnis 90/Die Grünen nicht abreißen zu lassen - im Gegenteil.