Die Welt von Gestern. Stefan Zweig

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Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

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Autorität ausbeutete. Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. Von frühester Kindheit an wurde in meiner Zeit diese stupide Methode der Einschüchterung geübt. Dienstmädchen und dumme Mütter erschreckten schon dreijährige und vierjährige Kinder, sie würden den ›Polizeimann‹ holen, wenn sie nicht sofort aufhörten, schlimm zu sein. Noch als Gymnasiast wurde uns, wenn wir eine schlechte Note in irgendeinem nebensächlichen Gegenstand nach Hause brachten, gedroht, man werde uns aus der Schule nehmen und ein Handwerk lernen lassen – die schlimmste Drohung, die es in der bürgerlichen Welt gab: der Rückfall ins Proletariat –, und wenn junge Menschen im ehrlichsten Bildungsverlangen bei Erwachsenen Aufklärung über ernste zeitliche Probleme suchten, wurden sie abgekanzelt mit dem hochmütigen »Das verstehst du noch nicht«. An allen Stellen übte man diese Technik, im Hause, in der Schule und im Staate. Man wurde nicht müde, dem jungen Menschen einzuschärfen, daß er noch nicht ›reif‹ sei, daß er nichts verstünde, daß er einzig gläubig zuzuhören habe, nie aber selbst mitsprechen oder gar widersprechen dürfe. Aus diesem Grunde sollte auch in der Schule der arme Teufel von Lehrer, der oben am Katheder saß, ein unnahbarer Ölgötze bleiben und unser ganzes Fühlen und Trachten auf den ›Lehrplan‹ beschränken. Ob wir uns in der Schule wohl fühlten oder nicht, war ohne Belang. Ihre wahre Mission im Sinne der Zeit war nicht so sehr, uns vorwärtszubringen als uns zurückzuhalten, nicht uns innerlich auszuformen, sondern dem geordneten Gefüge möglichst widerstandslos einzupassen, nicht unsere Energie zu steigern, sondern sie zu disziplinieren und zu nivellieren.

      Ein solcher psychologischer oder vielmehr unpsychologischer Druck auf eine Jugend kann nur zweierlei Wirkung haben: er kann lähmend wirken oder stimulierend. Wie viele ›Minderwertigkeitskomplexe‹ diese absurde Erziehungsmethode gezeitigt hat, mag man in den Akten der Psychoanalytiker nachlesen; es ist vielleicht kein Zufall, daß dieser Komplex gerade von Männern aufgedeckt wurde, die selbst durch unsere alten österreichischen Schulen gegangen. Ich persönlich danke diesem Druck eine schon früh manifestierte Leidenschaft, frei zu sein, wie sie in gleich vehementem Ausmaß die heutige Jugend kaum mehr kennt, und dazu einen Haß gegen alles Autoritäre, gegen alles ›von oben herab‹ Sprechen, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Jahre und Jahre ist diese Abneigung gegen alles Apodiktische und Dogmatische bei mir bloß instinktiv gewesen, und ich hatte schon vergessen, woher sie stammte. Aber als einmal auf einer Vortragsreise man den großen Hörsaal der Universität für mich gewählt hatte und ich plötzlich entdeckte, daß ich von einem Katheder herab sprechen sollte, während die Hörer unten auf den Bänken genau wie wir als Schüler, brav und ohne Rede und Gegenrede saßen, überkam mich plötzlich ein Unbehagen. Ich erinnerte mich, wie ich an diesem unkameradschaftlichen, autoritären, doktrinären Sprechen von oben herab in all meinen Schuljahren gelitten hatte, und eine Angst überkam mich, ich könnte durch dieses Sprechen von einem Katheder herab ebenso unpersönlich wirken wie damals unsere Lehrer auf uns; dank dieser Hemmung wurde diese Vorlesung auch die schlechteste meines Lebens.

      Bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Jahre fanden wir uns mit der Schule noch redlich zurecht. Wir spaßten über die Lehrer, wir lernten mit kalter Neugier die Lektionen. Dann aber kam die Stunde, wo die Schule uns nur mehr langweilte und störte. Ein merkwürdiges Phänomen hatte sich in aller Stille ereignet: wir, die wir als zehnjährige Buben ins Gymnasium eingetreten waren, hatten bereits in den ersten vier von unseren acht Jahren geistig die Schule überholt. Wir fühlten instinktiv, daß wir nichts Wesentliches mehr von ihr zu lernen hatten und in manchem der Gegenstände, die uns interessierten, sogar mehr wußten als unsere armen Lehrer, die seit ihrer Studienzeit aus eigenem Interesse nie mehr ein Buch aufgeschlagen. Auch machte sich ein anderer Gegensatz von Tag zu Tag mehr fühlbar: auf den Bänken, wo wir eigentlich nur mehr mit unseren Hosen saßen, hörten wir nichts Neues oder nichts, das uns wissenswert schien, und außen war eine Stadt voll tausendfältiger Anregungen, eine Stadt mit Theatern, Museen, Buchhandlungen, Universität, Musik, wo jeder Tag andere Überraschungen brachte. So warf sich unser zurückgestauter Wissensdurst, die geistige, die künstlerische, die genießerische Neugierde, die in der Schule keinerlei Nahrung fand, leidenschaftlich all dem entgegen, was außerhalb der Schule geschah. Erst waren es nur zwei oder drei unter uns, die solche künstlerischen, literarischen, musikalischen Interessen in sich entdeckten, dann ein Dutzend und schließlich beinahe alle.

      Denn Begeisterung ist bei jungen Menschen eine Art Infektionsphänomen. Sie überträgt sich innerhalb einer Schulklasse von einem auf den andern wie Masern oder Scharlach, und indem die Neophyten mit kindlichem, eitlem Ehrgeiz sich möglichst rasch in ihrem Wissen zu überbieten suchen, treiben sie einander weiter. Mehr oder minder ist es darum eigentlich nur Zufall, welche Richtung diese Leidenschaft nimmt; findet sich in einer Klasse ein Briefmarkensammler, so wird er bald ein Dutzend zu gleichen Narren machen, wenn drei für Tänzerinnen schwärmen, werden auch die andern täglich vor der Bühnentür der Oper stehen. Nach der unseren kam drei Jahre später eine Schulklasse, die ganz vom Fußball besessen war, und vor uns war eine, die für Sozialismus oder Tolstoi sich begeisterte. Daß ich zufällig in einen Jahrgang für die Kunst fanatisierter Kameraden geriet, ist vielleicht für meinen ganzen Lebensgang entscheidend gewesen.

      An und für sich war diese Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst eine ganz natürliche in Wien; die Zeitung gab in Wien allen kulturellen Geschehnissen besonderen Raum, rechts und links hörte man, wo immer man ging, bei den Erwachsenen Diskussionen über die Oper oder das Burgtheater, in allen Papiergeschäften standen in den Auslagen die Bilder der großen Schauspieler; noch galt Sport als eine brutale Angelegenheit, deren ein Gymnasiast sich eher zu schämen hatte, und der Kinematograph mit seinen Massenidealen war noch nicht erfunden. Auch zu Hause hatte man keinen Widerstand zu befürchten; Theater und Literatur zählten unter die ›unschuldigen‹ Passionen im Gegensatz zu Kartenspiel oder Mädchenfreundschaften. Schließlich hatte mein Vater, wie alle Wiener Väter, in seiner Jugend ebenso für das Theater geschwärmt und mit ähnlicher Begeisterung der Lohengrinaufführung unter Richard Wagner beigewohnt wie wir den Premieren von Richard Strauss und Gerhart Hauptmann. Denn daß wir Gymnasiasten uns zu jeder Premiere drängten, war selbstverständlich; wie hätte man sich vor den glücklicheren Kollegen geschämt, wenn man nicht am nächsten Morgen in der Schule hätte jedes Detail berichten können? Wären unsere Lehrer nicht völlig gleichgültig gewesen, so hätte ihnen auffallen müssen, daß an jedem Nachmittag vor einer großen Premiere – für die wir uns schon um drei Uhr anstellen mußten, um die einzig zugänglichen Stehplätze zu bekommen – zwei Drittel der Schüler auf mystische Weise krank geworden waren. Bei strenger Aufmerksamkeit hätten sie ebenso entdecken müssen, daß in dem Umschlag unserer lateinischen Grammatiken die Gedichte von Rilke steckten und wir unsere Mathematikhefte verwendeten, um die schönsten Gedichte aus geliehenen Büchern uns abzuschreiben. Täglich erfanden wir neue Techniken, um die langweiligen Schulstunden für unsere Lektüre auszunutzen; während der Lehrer über Schillers ›Naive und sentimentale Dichtung‹ seinen abgenutzten Vortrag hielt, lasen wir unter der Bank Nietzsche und Strindberg, deren Namen der brave alte Mann nie vernommen. Wie ein Fieber war es über uns gekommen, alles zu wissen, alles zu kennen, was sich auf allen Gebieten der Kunst, der Wissenschaft ereignete; wir drängten uns nachmittags zwischen die Studenten der Universität, um die Vorlesungen zu hören, wir besuchten alle Kunstausstellungen, wir gingen in die Hörsäle der Anatomie, um Sektionen zuzusehen. An allem und jedem schnupperten wir mit neugierigen Nüstern. Wir schlichen uns in die Proben der Philharmoniker, wir stöberten bei den Antiquaren, wir revidierten täglich die Auslagen der Buchhändler, um sofort zu wissen, was seit gestern neu erschienen war. Und vor allem, wir lasen, wir lasen alles, was uns zu Händen kam. Aus jeder öffentlichen Bibliothek holten wir uns Bücher, wir

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