Überlebt. Marion Hein

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Überlebt - Marion Hein

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      Vorwort

      Zwischen 1994 und 2008 trafen sich regelmäßig Altersgenossen der Geburtsjahrgänge um 1930. Die meisten sahen sich beim ersten Treffen nach über fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder und entsprechend zäh verliefen anfangs die Gespräche. Doch dann erzählte einer nach dem anderen, wie sein Leben seither verlaufen war, wobei die Erlebnisse in den Kriegs- und Nachkriegsjahren immer besonderes Interesse fanden. Wiederholt wurde vorgeschlagen, diese Berichte aufzuschreiben.

      Wir wollen damit unseren Enkeln vor Augen führen, was für eine aufregende und schreckliche Jugend wir hatten. Aber wir sind auch die Generation, die der Einschnitt in die deutsche Geschichte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts besonders intensiv betroffen hat. Wir waren es, die als Neun- und Zehnjährige im Erdkunde- und Geschichtsunterricht mit glänzenden Augen auf der großen Europakarte die Gebiete abgesteckt haben, die die Deutsche Wehrmacht erobert hat - jedenfalls so lange sie immer größer wurden. Wir sind uniformiert durch die Stadt marschiert und haben gesungen: „Fort mit jedem schwachen Knecht, nur wer stürmt hat Lebensrecht!“, ohne zu ahnen, welche furchtbaren Verbrechen unter diesem Motto begangen wurden. 1945 wurden uns dann die Augen geöffnet und wir begannen zu begreifen, wieviel Unglück durch unser Volk über die Welt gekommen ist.

      Nein, schuldig sind wir nicht geworden. „Kein fühlender Mensch erwartet von denen, die zur damaligen Zeit im Kindesalter waren, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind“, das betonte Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Rede vor dem Deutschen Bundestag am 40. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs. „Aber wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere müssen sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wach zu halten.“

      Wach zu halten ist auch die Erinnerung an die Zeit, als unser Land geteilt wurde. Wach müssen wir bleiben, damit so etwas nie wieder passiert.

      Finsterwalde, den 24. August 2006

      Lehrer der Knabenvolksschule

      Gerhard Hein *1930 Bau-Ingenieur

      In der Schulzeit hatte man vor Lehrern sehr viel Respekt. Sie waren geachtete Personen, deren Wort auch bei den Eltern von großer Bedeutung war. Alle haben versucht, uns etwas beizubringen, aber sie hatten ihre Eigenheiten. Auffallend war damals die ausgeprägte Disziplin in der Klasse und auf dem Schulhof.

      Gericke war Rektor und erzählte gerne Geschichten aus dem 1. Weltkrieg. Er wurde deshalb auch Lehrer Kopfschuss genannt. Im Schirmständer des Rektorzimmers standen seine Schlaginstrumente (Rohrstöcke). Später hatte er dafür auch den untersten Schubkasten im Schrank reserviert, man konnte sich einen Stock aussuchen. Wenn er mit dem Schlüsselbund in der Hosentasche klapperte, war er mit einem Schüler unzufrieden. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Nach 1945 wurde er wegen Nazi-Mitgliedschaft entlassen und war noch eine gewisse Zeit Pförtner.

      Franz war während des Krieges Chef des Luftschutzes. Im Schloss zeigte er uns des Öfteren die erforderlichen Gerätschaften und erklärte uns die Verhaltensregeln bei einem Angriff. Kant war ein überzeugter Nationalsozialist und las häufig während der Schulstunden aus der Zeitung Das Reich vor. Die Schüler schenkten der Lesung meist wenig Aufmerksamkeit. Die Schularbeiten kontrollierte er recht oberflächlich. Sander wurde von uns Mope genannt. Er war ein älterer, ruhiger und guter Lehrer. Seeland ist mir als absoluter Schlägertyp in Erinnerung, der bei jeder passenden Gelegenheit mit dem Rohrstock auf den Po hieb. Mit etwas Glück hatte er auch andere harte Strafen parat, wie z.B. die Verdoppelung der Hausaufgaben. Manchmal handelte er auch im Auftrag vom Rektor.

      Mauruschat kam aus Ostpreußen. Manchmal erzählte er von seiner Heimat und den Masuren. Nachdem der Sportlehrer zum Kriegsdienst musste, hatten wir Sport bei ihm. Seine Standardstrafe war es, mit dem Stock über den zusammengedrückten Daumen und Mittelfinger zu hauen. Semisch nannten wir Gandhi. Er war unser Naturkunde- und Physiklehrer. Der Schulgarten war sein Reich. Für uns war er ein strenger Lehrer. Wenn er in den Pausen Aufsicht hatte, ging es überaus diszipliniert zu. Mit seiner Haselnussgerte aus dem Schulgarten schlug er unbarmherzig in die nackten Kniekehlen. Schiemenz war auch als Klamottenkönig bekannt. Bei ihm hatten wir Musikunterricht. Er hatte die Angewohnheit, einen Schlüsselbund nach einem Störenfried zu werfen, den er zuvor nicht angeschaut hatte. Strafen gab es auch mit Kopfnüssen.Puhle kontrollierte täglich die Sauberkeit der Hände. 1940 wurde der junge Lehrer zum Kriegsdienst eingezogen. Er ist im 2. Weltkrieg gefallen.

      Lehrer der Oberschule

      Lore Wolf *1932 Studienrätin

      Die Engelhardten

      Die Klassentür wurde mit energischer Hand geöffnet. Herein kam die Engelhardten, wie wir sie despektierlich nannten. Grauer Kleiderrock, vorn durchgeknöpft, Gürtel um die füllige Mitte, darunter, je nach Jahreszeit, Bluse oder Pullover, auch grau, aber heller als der Rock. Hellblau oder hellgrün kamen auch vor, rosa nie, auch rot nicht oder gar lila. Dezent eben. Die schwarzen, geschnürten Schuhe blank geputzt, das graue Haar straff nach hinten gekämmt, der geflochtene Zopf mit Haarnadeln zum Knoten zusammengesteckt, keine Strähne hing heraus, nichts war verrutscht. So stand sie aufrecht vor der Klasse, den rechten Arm zum Gruß nur leicht erhoben. Sie hatte ihn nie zur Gänze ausgestreckt wie der Biologie- und der Musiklehrer, die in Breeches und SA (Sturmabteilung)-Hemd durch die Schule stolzierten.

      „Heitla, setzen“, und damit ging der Arm nach unten, die Geste hatte nichts Feierliches, was vielleicht zu Heil Hitler gehört hätte, aber Heil Hitler hatte sie ja auch nicht gesagt. Dass ihr Gruß etwas Verächtliches hatte, wurde mir erst später klar, durch aufgeschnappte Satzfetzen, wie „Sie mussten mich wieder zurückholen. Sie brauchen jetzt Lehrer, wo so viele an der Front sind“. 1933 war die rote Else, wie man die engagierte Sozialdemokratin in Finsterwalde nannte, zwangspensioniert worden. Die Bezeichnung war abschätzig oder respektvoll, es kam darauf an, in welcher Ecke man saß. „Sie war für die freie Liebe“, wurde erzählt und tatsächlich gab sie mir nach dem Krieg Bücher zu diesen Themen. Die zum Teil aus der avantgardistischen Sowjetliteratur stammenden Werke haben mich als Bürgermädchen sehr verblüfft. In den ersten Oberschulklassen war allerdings bei ihr von ungewöhnlichen Ansichten nichts zu spüren, aber auch nichts von Reformpädagogik, von der Berücksichtigung des Individuums Schüler. Mädchen wie Jungen wurden mit Nachnamen angeredet: „Richter, komm vor“ oder „Linke, Du Gans“. Wenn wir ihr allzu träge vorkamen: „Fenster auf! Aufstehen, setzen, aufstehen setzen!“ Damit hätte das Gehirn wieder mehr Sauerstoff und da wird sie wohl recht gehabt haben.

      Wir hatten vor ihr Respekt. Sie war gerecht und ließ sich nicht anmerken, ob sie einen Schüler mochte. Vielleicht merkte man es ein bisschen beim Enkel ihres langjährigen Geliebten, des sozialdemokratischen Bürgermeisters von Finsterwalde. Dazu musste man aber eingeweiht sein, man musste wissen, dass die Engelhardten in ihrer Freie-Liebe-Periode sogar gemeinsam mit dem Geliebten im offenen Wagen durch Finsterwalde gefahren war. Sie wagte, offen zu legen, was nach der herrschenden Konvention hinter der Fassade verborgen zu bleiben hatte. Ein beachtlicher Mut, stelle ich im Nachhinein fest.

      Wir lernten die Zeichensetzung gründlichst. Es kam vor, dass sie in die Klasse stürmte und noch vor dem Grußritual rief: „Braun, Komma vor und!“. Die Regeln mussten wie aus der Pistole geschossen aufgesagt werden. Dann Wortart und Satzteilbestimmungen, die Unterscheidungen von Neben-, Subjekt-, Objekt- oder Umstandssätzen. Es war verwirrend und wollte mir nicht in den Kopf. Lesebuchtexte mussten laut vorgelesen werden. Sie wurde sehr böse, wenn wir ohne Ausdruck lasen. Gedichte mussten oft auswendig gelernt und dann vor der Klasse stehend mit Ausdruck vorgetragen werden. Dann korrigierte sie so lange herum, bis er oder sie es begriffen hatte. Mit dem einmaligen Auswendiglernen

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