Überlebt. Marion Hein

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nach vorne, steh gerade“ aufgesagt. Meist waren es Balladen oder Naturgedichte. Ich erinnere mich nur an ein einziges vaterländisches, ziemlich kurzes Schmalzgedicht von Heinrich Anacker. Unsere Meinung zu den Gedichten war im Allgemeinen nicht gefragt. Bei diesem aber fragte sie ausgerechnet mich, wie es mir denn gefiele. Es war mir sehr peinlich, denn eigentlich hatte ich gar keine Meinung dazu. Ich antwortete ausweichend, fragte mich, warum sie mich wohl gefragt hatte, las es mehrfach, blieb gleichgültig und sagte ihr dann: „Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.“ Sie war mit der Antwort zufrieden. Sie hatte ein Samenkorn gelegt, wie gute Lehrer es tun. Und sie war wirklich eine sehr gute Lehrerin.

      Paulchen

      Herr Paul, Paulchen, gelegentlich auch Master genannt, unterrichtete Englisch, Französisch, Latein und während des Krieges aushilfsweise auch Geographie, wo er uns viele Fotos von seinen weiten Reisen zeigte. Ich frage mich, wie es zu diesem eher zärtlichen Paulchen gekommen ist. Kein Vergleich zu Wuchte für Herrn Wucht oder zu Sacke für den glatzköpfigen, unförmigen, Wickelgamaschen tragenden Geschichtslehrer. An seinem Äußeren kann es nicht gelegen haben. Er trug gut sitzende Anzüge, korrekt gebügelte Hemden, passende Krawatten, passend auch die Socken und die gut geputzten Schuhe. Er wahrte Distanz zu uns, sicher auch zu seinen Kollegen, verteilte sehr selten Ohrfeigen (natürlich nur an die Jungen), wobei er überraschenderweise links zuschlug, wo man den Schlag doch rechts erwartete. Keine lockere Bemerkung kam über seine Lippen, kein Witz, es sei denn, er diente Unterrichtszwecken. „Waiter, when shall I become a cup of tea?“ – „I hope never, Sir.“ Von theoretischen Erklärungen zur Grammatik hielt er nicht viel.

      Er hatte sich auf Mustersätze verlegt, die wir wieder und wieder üben mussten. Zu seinen Lieblingssätzen gehörte der berühmte Ausspruch Nelsons vor der Schlacht von Trafalgar. Er begann: „England expects...“ und wir mussten antworten: „every man to do his duty.“ Bei aller Distanz war Paulchen nicht unfreundlich. Ich glaube, er war höflich zu uns. Bei Betrugsversuchen konnte er sehr ärgerlich werden. Abschreiben bei Klassenarbeiten wurde mit Tadel wegen Betrugs und einer Sechs als Zensur quittiert. Einmal erwischte er mich beim Abschreiben. Er sagte nur: „Aber Lore“ und das mit bekümmertem Gesicht. In der gleichen Stunde hatte ein anderer Schüler einen Tadel und die Note Sechs bekommen. Ich bekam keine Strafe, schämte mich sehr und fragte mich lange, ob er mir die Halbjahreszensur nicht verderben oder ob er mich auf diese Weise sehr nachdrücklich bestrafen wollte. In seinen Fächern habe ich nie mehr abgeschrieben, aber in den anderen munter weiter.

      Eines Tages kam Paulchen im Unterricht auf Rosa Luxemburg und Clara Zetkin zu sprechen. Es war eine der wenigen Äußerungen, die etwas über ihn sagten. Er bezeichnete Clara Zetkin als glänzende Rednerin, die er einige Male im Reichstag gehört habe. Rosa Luxemburg sei eine bedeutende Frau von scharfem Verstand gewesen. Ich wartete auf eine abwertende Bemerkung: Kommunistin, Jüdin? Ich war ganz und gar verwirrt. Eine Kommunistin eine glänzende Rednerin? Und die rote Rosa bedeutend, eine Jüdin,? Es fügte sich mir nicht zusammen.

      Nach dem Kriege erzählte mir die Hurmsche, dass Paul und sie von der damaligen Provinzialschulverwaltung nach Finsterwalde geschickt worden waren, um den linken Flügel an der Oberrealschule zu stärken. Mitglieder der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands ) waren beide nicht, sonst wären sie 1933 entweder entlassen (wie die Engelhardten) oder strafversetzt worden. Als Paulchen 60 wurde, ging ich noch zur Schule. Er war müde geworden und hörte nicht mehr sehr gut. Wir mussten ihm sagen, dass es geklingelt hat. In Französisch und Latein ließ er uns lesen und übersetzen, gelegentlich diktierte er uns etwas über die jeweiligen Schriftsteller, was wir uns einprägen mussten. Es war, als käme nichts mehr an ihn heran. In den wenigen Jahren, die ihm noch an der Schule verblieben, wurde es für ihn immer mühseliger. Für den kurzen Weg von seiner Wohnung zur Schule brauchte er lange. Er musste immer wieder stehen bleiben und sich anlehnen. Er hatte schon lange Bluthochdruck und starb an einem zweiten Schlaganfall.

      Sacke

      Es wurde viel auswendig gelernt, nicht nur Gedichte. Auch englische Texte, französische Texte, die ersten Seiten vom Gallischen Krieg von Julius Caesar, auch Vergil. Außerdem Eselsbrücken jeder Art in Geschichte. Er zog gerne die Schüler an den Ohren aus der Bank oder schlug sie mit einem Schlüssel auf den Kopf. Wir mussten alle deutschen Kaiser und die preußischen Könige von 768 bis zum Reichsdeputationshauptschluss im Jahre 1803 lernen, wobei er uns niemals mitteilte, was ein Reichsdeputationshauptschluss ist.

      Schwedeski und die Hurmsche

      Bei unserem Religionslehrer Schwedeski wurden Kirchenlieder auswendig gelernt. Nichts haftet in meinem Gedächtnis von seinem Unterricht, bis auf eine Merkwürdigkeit. Er versprach demjenigen 25 Reichspfennige, der am nächsten Tage Oh Haupt voll Blut und Wunden auswendig und ohne Stocken aufsagen könne. Wenn ich mich recht erinnere, konnte Heinz die schöne Prämie einkassieren. Schwedeski kam nach dem Krieg nicht mehr zurück. Er hat aber, wie ich erfuhr, den Krieg überlebt, obwohl man ihn in das berüchtigte Strafbataillon 999 gesteckt hatte. Es muss 1944 gewesen sein, als man ihn zusammen mit der Hurmschen verhaftete. Die beiden hätten gemeinsam feindliche Sender abgehört. Darauf stand die Todesstrafe. Man sagt, die Hurmsche und er wären aus Eifersucht von der Frau des Religionslehrers denunziert worden, weil sie von einer Affäre der beiden überzeugt war. Die Hurmsche und eine Affäre. Das konnte ich mir gar nicht denken. Ich fand sie alt und hässlich, wusste noch nichts von Anziehung, meinte, Anziehung hätte etwas mit Angezogensein zu tun, mit Eleganz und hohen Absätzen, übereinander geschlagenen schlanken Beinen, mit Augenaufschlägen und lockendem Lächeln, so wie auf den Filmstarpostkarten, die damals gesammelt wurden.

      Heinz Wolf *1928 Dr. phil. Studienrat

      Die Hurmsche 1948 bis 1950

      In Finsterwalde war ich nur 2½ Jahre und das auch nur halbtags zur Schulzeit. Dennoch war diese Zeit prägend für mich tumben Tor, der nach fast drei Jahren Unterbrechung (Flakhelfer, Kriegsgefangener, Landarbeiter) zögerlich und unsicher als Achtzehnjähriger in der 10. Klasse antrat, um den Schulabschluss zu machen. Diese Zeit gab mir Richtung und Orientierung, beruflich wie persönlich, legte das Fundament für Grundeinstellungen und Wertvorstellungen, für deren Entwicklung in der Vereinnahmung für Deutschlands totalen Krieg kein Raum gewesen war.

      Nicht die Stadt, die Schule als Ganzes und auch nicht die Klassengemeinschaft waren entscheidend, sondern zwei Lehrer. Herr Paul (Paulchen) mit seiner korrekten, pflichtorientierten Haltung, der mich durch die vermittelten fachlichen Inhalte zum Anglistikstudium brachte. Frau Hurm hatte in einem sehr umfassenden Sinn einen lebenslangen Einfluss. Die vier Fächer Deutsch, Französisch, Englisch und Latein machten fast die Hälfte der wöchentlichen Unterrichtszeit der fremdsprachlichen Abteilung der Klasse aus. Beide Lehrer waren täglich präsent. Sie wirkten durch ihre eigenständigen Persönlichkeiten fordernd und fördernd in unserer Klasse, die in den letzten beiden Jahren sehr klein war.

      Die Hurmsche, wie wir sie zu ihrem Missfallen nannten, war eine unbestrittene Autorität. Eine kleine grauhaarige Frau mit blitzender Brille, selbstbewusst, sachlich, hellwach, freundlich, öfters aber auch mit aufblitzender Ironie im Blick, rational diesseitig eingestellt, Verquastheiten abhold, selber gescheit und mit großer Neigung zu gescheiten Leuten. So nannte sie z.B. Mehring mit Wärme einen blitzgescheiten Mann. „Man müsse über sich hinauswachsen wollen, damit man nicht unter sich sinke“, zitierte sie einen unserer Klassiker. Sie war hilfsbereit, listig und immer engagiert. Eine Lehrerpersönlichkeit, die den Geist ihrer Schüler in Gang setzen und Spuren hinterlassen wollte. Sie machte nie Dienst nach Vorschrift, erlaubte sich aber auch Schwächen, die sich ein Lehrer eigentlich verkneifen sollte, wie z.B. die unverhohlene, oft entschieden einseitige Sympathie für Personen, die sie interessierten.

      Frau Hurm wollte mit angestrengt gutem Willen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone ein besseres Deutschland schaffen. Es war wesentlicher Verdienst dieser Frau, dass in unserer Klasse Offenheit und Freimut in weltanschaulichen Fragen selbstverständlich und ungefährlich

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