Das Lied von Licht und Finsternis (Lickie-Edition). Georg Martin
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Die Schlucht des Vergessens lag vor ihnen. Und wenn hier von einer Schlucht die Rede ist, so könnte ein falscher Eindruck entstehen. Die Schlucht des Vergessens war kein kleiner Spalt in der Erde, den ein entschlossenes Ross mit einem einzigen Sprung zu überwinden in der Lage gewesen wäre. Die Schlucht des Vergessens war ein gewaltiger Riss in der Landschaft, die monumentale und unüberwindliche Hinterlassenschaft eines gewaltigen Erdbebens. Und nirgends war sie unüberwindlicher als hier, in unmittelbarer Nähe von Elibur. Der Riss im Erdgestein war so breit, dass es, wenn man in Alba-Re am Rand der Schlucht stand, an den meisten Tagen nicht möglich war, die andere Seite zu sehen. Nur bei ganz klarem Wetter konnte man von hier aus bis nach Königsland blicken. Es war auch nicht möglich, bis auf den Grund der Schlucht zu sehen. Dunstschwaden hüllten sie in einen für das menschliche Auge undurchdringlichen Schleier. Es wusste daher auch niemand, wie tief die Schlucht war. Die Wände der Schlucht des Vergessens waren so schroff und so steil, dass auch noch nie jemand versucht hatte es herauszufinden. Und falls es doch irgendwann einmal jemand gewagt haben sollte, so hatte man nie etwas darüber erfahren. Schließlich war dies die Schlucht des Vergessens: Niemand, der die Schlucht betrat und, was unwahrscheinlich genug war, hernach lebendig wieder herauskam, konnte anschließend noch wissen, wer er war. All diese zum Allgemeingut gewordenen Kenntnisse und Überlieferungen über die Schlucht standen dem Pangûl in bedrückender und erschreckender Klarheit vor Augen, als er auf sie zuritt, die erbarmungslosen Jäger seines Todfeindes im Rücken und diesen selbst, seinen Großvetter, den Erl von Serpieri, aufgepeitscht durch Hass, Zorn und Rachedurst. Wie hatte er glauben können, dass die Schlucht des Vergessens für ihn die Rettung bedeuten könnte? Und doch – es blieb ihm keine Wahl. Er konnte nicht mehr anhalten. Er musste weiterreiten. Er musste hoffen auf ein Wunder, ein königliches Wunder im Schatten von Elibur. Und sein Ross durfte ihn jetzt nicht im Stich lassen.
Da. Gleich war es so weit. Vor ihm gähnte der dunstige Abgrund, die unsägliche Tiefe, die uferlose Weite. Erst im allerletzten Augenblick alarmierten seine Instinkte das Tier, das, geblendet durch die schwefligen Dämpfe, die zu dieser Tageszeit auch über der Schlucht durch die Luft waberten, die tödliche Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte. Jetzt aber bäumten sich alle Kräfte des Lebens in ihm auf. Es scheute, bremste jäh ab, wollte einen Haken nach links schlagen, kehrtmachen, verlor das Gleichgewicht, stürzte, warf im Sturz seinen Reiter ab, verlor den Halt, sank mit den Hinterläufen in den Abgrund, wurde von Panik gepeinigt, krallte sich mit den Vorderläufen in den felsigen Boden, kämpfte verzweifelt gegen das Verhängnis an, fand Halt, fand wider alle Wahrscheinlichkeit Halt in dem harten Gestein der steilen Felswand, mobilisierte letzte Kraftreserven, um sein todgeweihtes Leben doch noch zu retten, und wand sich schließlich heraus, entriss mit der Kraft der Vorderläufe die beiden Beine, die ihm fast zum Verderben geworden wären, dem Höllenschlund. Aufrecht stand es da, noch auf wackligen Beinen, und schüttelte sich, schüttelte das Grauen ab, dem es so knapp entronnen war. Sein schwarzes Fell war nass von Dunst und Schweiß. Dann entsann es sich der Verfolger, nahm abermals die kläffende Meute wahr, die schon wieder ganz nah war, und brauste davon, galoppierte durch Alba-Re wie von Nirganen gehetzt. Von seinem Reiter fehlte jede Spur.
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