Französische Sprachwissenschaft. Elissa Pustka

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Französische Sprachwissenschaft - Elissa Pustka narr studienbücher

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werden. Sie sind dies möglicherweise in Bezug auf eines der Kriterien, aber nicht in Bezug auf andere. So kann beispielsweise eine Rede im Parlament sehr emotional sein, obwohl sie öffentlich ist, ein Chat mit dem Kundenservice der Bank rein sachlich, aber gleichzeitig höchst vertraulich. Außerdem ist jede Parlamentsrede verschieden, und auch innerhalb derselben Rede kann sich die Situation immer wieder ändern. Nähesprache im engeren Sinne definiert KREFELD (2015) daher nur über das folgende zentrale Merkmal: face-to-face-Situation ohne Zuhilfenahme technischer Medien.

      Merkmale gesprochener Sprache

      Die Verteilung der sprachinternen Charakteristika gesprochener und geschriebener Sprache ist ebenfalls vielschichtig. Der Sprachvergleich zeigt, dass sich eine Reihe von Merkmalen in allen Sprachen der Welt wiederfinden. Diese universellen Merkmale der Nähe- und Distanzsprache lassen sich aus den Kommunikationsbedingungen ableiten. Nähekommunikation findet parallel auf zahlreichen Kanälen statt: neben der Sprache auch durch Gestik und Mimik, den situativen Kontext und geteiltes Wissen. Dagegen ist Distanzkommunikation oft auf die Sprache beschränkt. Aus diesem Grund ist Distanzsprache präziser in der Wortwahl, komplexer in der Syntax und deutlicher in der Phonologie. In der Nähesprache reichen oft sogenannte passe partout-Wörter aus (die so heißen, weil man sie für alles mögliche einsetzen kann), z. B. fr. truc, machin, mec, Aneinanderreihungen von Hauptsätzen und eine reduzierte Aussprache. Im Französischen sind Formen wie <chépa> [ʃpɔ] für je ne sais pas (s. o.), <quat’> [kat] für quatre oder <t’as> [ta] für tu as allerdings komplexeren einzelsprachlichen Regelmäßigkeiten unterworfen (vgl. Kapitel 6.2.2). Zusätzlich finden sich in der Nähesprache viele Deiktika, mit denen man direkt auf die Umgebung zeigen kann: ici, là-bas, celui-ci, celui-là etc.

      Da Nähesprache im Gegensatz zu Distanzsprache nicht sorgfältig vorbereitet und korrigiert ist, sondern spontan produziert wird, erscheint sie – wenn man sie als Transkription vorliegen hat – oft chaotisch, provisorisch, bruchstückhaft oder sogar falsch: Man findet hier Häsitationsphänomene wie leere und gefüllte Pausen (euh), Dehnungen und Wiederholungen, abgebrochene Sätze, Selbstkorrekturen (eingeleitet durch enfin, bon etc.) und Unsicherheitsbekundungen (z. B. durch je sais pas, je veux dire). Im Alltag fällt uns das aber gar nicht auf. Denn ganz so chaotisch ist die Nähesprache auch nicht: Statt mit Punkt und Komma ist sie durch Gliederungssignale strukturiert. Das sind Öffnungssignale wie et und alors und Schließungssignale wie hein und quoi. Zu ihrem auf den ersten Blick chaotisch wirkenden Satzbau gehören auch die sogenannten Rechts- und Linksversetzungen, d. h. Abweichungen von der üblichen Subjekt-Verb-Objekt-Reihenfolge. So findet man statt Le chat mange la souris eher il mange la souris, le chat oder le chat, il mange la souris.

       À vous !

      Welche sprachlichen Gliederungssignale (connecteurs) der französischen Distanzsprache kennen Sie? Wie leitet man einen Gedanken ein, wie fügt man einen hinzu, wie schließt man ab und wie stellt man Parallelen her? Erstellen Sie eine Vokabelliste, die Ihnen beim Verfassen französischer Texte hilft!

      Da Nähesprache typischerweise im Dialog vorkommt, finden sich hier auch Kontaktsignale von Sprecher*in (z. B. hein, tu sais, tu vois, écoute) und Hörer*in (z. B. hum, d’accord, tiens).

      Das Kriterium der Emotionalität kann sich schließlich unterschiedlich niederschlagen. Einerseits machen Emotionen sprachlos bzw. drücken sich in sprachlich marginalen Interjektionen aus, wie beurk ! für Ekel und aïe ! für Schmerz. Zu dieser direkten Ausdrucksweise gehören auch die Onomatopoetika (‘Lautmalereien’), z. B. crac, boum. Auf der anderen Seite lassen sich durch besonders aufwändige Versprachlichungsstrategien Emotionen bei den Hörer*innen wecken, u. a. durch Metaphern und Übertreibungen (vgl. Kapitel 9.4). Beim mündlichen Erzählen sorgen außerdem das Präsens und die direkte Rede für Lebendigkeit (z. B. « ‘Maman, tu as pas vu mes basquets ?’ » im Interviewausschnitt oben).

      Nähe und Distanz beeinflussen jedoch nicht nur die Sprache, sondern auch die nichtsprachliche Kommunikation. So kommt man sich bei einer Umarmung näher als beim Händeschütteln. Viel ist hier allerdings auch kulturell bedingt, wie etwa in Frankreich die Anzahl der bises je nach Region.

      Merkmale des gesprochenen Französisch

      Neben den universellen Merkmalen der gesprochenen Sprache existieren auch einzelsprachliche Merkmale. Im Französischen ist der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Grammatik ganz besonders groß. Vergleicht man die Konjugation der regelmäßigen Verben auf -er (z. B. chanter in Tab. 1.3), so sieht man, dass Endungen fast nur im graphischen Medium existieren; im phonischen Medium erkennt man Person und Numerus dagegen v. a. am vorangestellten Personalpronomen, das oft verdoppelt wird.

Phonie Graphie
[mwaʒəʃɑ̃t] <je chante>
[twatyʃɑ̃t] <tu chantes>
[lɥiiʃɑ̃t]/[ɛlɛlʃɑ̃t] <il/elle/on chante>
[nuɔ̃ʃɑ̃t] <nous chantons>3
[vuvuʃɑ̃te] <vous chantez>
[øiʃɑ̃t]/[ɛlɛlʃɑ̃t] <ils chantent>

      Tab. 1.3:

      Verbkonjugation in phonischem und graphischem Medium.

      Auf Ebene der Konzeption sind die Unterschiede besonders deutlich in Morphologie und Syntax (vgl. Kapitel 7 und 8). So ist die Anzahl der Tempi und Modi in der Nähesprache geringer: Das passé simple, der imparfait du subjonctif und das futur simple kommen hier (fast) nicht vor, und häufig wird an Stelle des subjonctif der Indikativ verwendet. Bei den Pronomina kann das unpersönliche il in (il) faut und (il) y a wegfallen und nous durch on ersetzt werden (was auch die Konjugation vereinfacht; vgl. Tab. 1.3); gleichzeitig ist eine Verdoppelung möglich (z. B. nous on chante; vgl. Tab. 1.3). Typisch für das gesprochene Französisch ist außerdem die Verkürzung von cela zu ça und von qui vor Vokal zu qu’ (z. B. c’est qui qu’a fait ça ? statt qui a fait). In der Verbalphrase fällt auf, dass die Negation ohne ne erfolgt (vgl. <chépa> statt je ne sais pas; s. o.). Zudem kann der accord fehlen, beim participe passé, aber auch beim Präsentativ c’est (z. B. c’est pas des pizzas statt ce ne sont pas des pizzas). Auf Satzebene ist il y a X qui eine speziell französische Konstruktion (z. B. « il y a des choses moi qui me, qui m’horripilent » in der Transkription oben). Schließlich werden im gesprochenen Französisch Fragen üblicherweise allein durch die Intonation ausgedrückt (z. B. Tu viens ?), während in der Distanzsprache die Inversion vorherrscht (z. B. Pourriez-vous m’envoyer votre adresse ?). Wir vertiefen diese Phänomene noch in Kapitel 8.3.3.

      Im Gegensatz zu den universellen Versprachlichungsstrategien ergeben sich die einzelsprachlichen Versprachlichungsstrategien nicht automatisch aus den Kommunikationsbedingungen. Im Gegenteil:

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