Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi

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als durchschaue er sie durch und durch und verstehe alle ihre traurigen Gedanken. Errötend reckte sie sich zu ihm auf, in Erwartung eines Kusses; aber er streichelte ihr nur ein paarmal das Haar und bemerkte:

      »Diese dummen Chignons! Bis zu seiner wirklichen Tochter kommt man gar nicht durch; man liebkost nur die Haare toter Weiber. Nun, wie ist's, liebe Dolly?« wandte er sich an seine älteste Tochter. »Was macht dein Matador?«

      »Es ist nichts Besonderes davon zu sagen, Papa«, antwortete Dolly, die verstand, daß er ihren Mann meinte. Und sie konnte sich nicht enthalten, mit einem spöttischen Lächeln hinzuzufügen: »Er ist immer außer dem Hause; ich bekomme ihn fast gar nicht mehr zu sehen.«

      »Ist er denn noch nicht auf das Gut gefahren, um den Wald zu verkaufen?«

      »Nein, er hat es immer vor.«

      »Soso!« murmelte der Fürst. »Soll ich mich also auch reisefertig machen? Ganz wie du befiehlst«, wandte er sich an seine Frau und setzte sich wieder hin. »Weißt du was, Katja?« fuhr er, sich seiner jüngsten Tochter zuwendend, fort. »Du solltest einmal eines schönen Tages beim Aufwachen zu dir sagen: ›Ach, ich bin ja ganz gesund und vergnügt; ich will wieder einmal mit Papa in der frischen, kalten Morgenluft einen Spaziergang machen.‹ Wie denkst du darüber?«

      Was der Vater da sagte, klang durchaus harmlos; und doch geriet Kitty bei diesen Worten in die größte Verlegenheit und verlor völlig die Fassung wie ein ertappter Verbrecher. ›Ja, er weiß alles, er durchschaut alles und will mir mit diesen Worten sagen, daß, wenn man sich auch schämt, man doch seine Schmach überstehen muß.‹ Sie fand nicht den Mut, etwas zu antworten. Sie setzte dazu an, brach aber plötzlich in Tränen aus und stürzte aus dem Zimmer.

      »Das kommt von deinen Späßen!« schalt die Fürstin ihren Mann ärgerlich. »Und so machst du es immer.« Und nun folgte eine Reihe von Vorwürfen.

      Der Fürst hörte diese Vorwürfe ziemlich lange an, ohne ein Wort darauf zu erwidern, aber sein Gesicht wurde immer finsterer.

      »Sie ist in einem so bedauernswerten Zustande, das arme Kind«, sagte die Fürstin; »aber du merkst gar nicht, daß ihr jede Anspielung auf die Ursache ihres Kummers schmerzlich ist. Ach, wie man sich in den Menschen irren kann!« An dem veränderten Tone, in dem sie die letzten Worte sprach, merkten Dolly und der Fürst, daß sie Wronski meinte. »Es ist mir unbegreiflich, daß es keine Gesetze gegen so schändliche, unedle Menschen gibt.«

      »Ich mag das gar nicht mehr anhören!« erwiderte der Fürst finster und stand von seinem Sessel auf, als ob er hinausgehen wollte; aber an der Tür blieb er stehen. »Gesetze gibt es schon, Mütterchen; aber da du mich nun doch einmal dazu herausforderst, offen zu sein, so will ich dir sagen, wer an alledem schuld ist: du, du, du allein! Gesetze gegen solche Herrchen hat es immer gegeben und gibt es auch jetzt! Jawohl, wäre nicht von deiner Seite in einer Weise verfahren worden, wie nicht hätte verfahren werden dürfen, – ich bin ein alter Mann, aber ich würde ihn vor meine Pistole fordern, diesen Gecken. Ja, und jetzt kuriert nur an ihr herum und laßt diese Pfuscher von Ärzten kommen!«

      Der Fürst hatte, wie es schien, noch vieles auf dem Herzen, was er sagen wollte; aber sobald die Fürstin diesen Ton von ihm hörte, ging es wie immer bei solchen ernsten Fragen: sie fügte sich ihrem Manne und sah reumütig ihr Unrecht ein.

      »Alexander, Alexander!« flüsterte sie, trat einen Schritt auf ihn zu und brach in Tränen aus.

      Sobald der Fürst sie weinen sah, wurde auch er ruhiger. Er ging zu ihr hin.

      »Nun, wollen's gut sein lassen, wollen's gut sein lassen! Dir ist auch schwer ums Herz, das weiß ich. Aber was ist zu machen? So sehr groß ist ja das Unglück noch nicht. Gott ist barmherzig. – Danke, danke!« sagte er, ohne selbst recht zu wissen, was er sprach, als Antwort auf den tränenfeuchten Kuß der Fürstin, den er auf seiner Hand fühlte. Und der Fürst verließ das Zimmer.

      Schon vorher, als Kitty weinend hinausgelaufen war, hatte Dolly mit dem geübten Blick der Mutter und Hausfrau sogleich erkannt, daß hier Frauenwerk zu tun sei, und sich vorgenommen, dieses Werk zu verrichten. Nun nahm sie den Hut ab, streifte sich, in geistigem Sinne gesagt, die Ärmel in die Höhe und rüstete sich zur Tat. Während die Mutter auf den Vater schalt, hatte Dolly, soweit das die kindliche Ehrerbietung erlaubte, die Mutter zurückzuhalten versucht. Während dann der Fürst seinem Ingrimm Luft machte, hatte sie geschwiegen und sich für ihre Mutter geschämt; mit zärtlicher Bewunderung hatte sie auf ihren Vater geblickt, als dieser so bald wieder gut und freundlich wurde. Aber als nun der Vater hinausgegangen war, da schickte sie sich an, das Wichtigste zu tun, was jetzt nötig war: zu Kitty zu gehen und sie zu beruhigen.

      »Ich wollte Ihnen schon lange etwas sagen, maman: Wissen Sie wohl, daß Ljewin, als er das letzte Mal hier war, Kitty seine Hand anbieten wollte? Er hatte es vorher zu Stiwa gesagt.«

      »Nun, und was weiter? Ich verstehe nicht ...«

      »Da hat ihm Kitty vielleicht einen Korb gegeben? Hat sie Ihnen nichts davon gesagt?«

      »Nein, sie hat nichts gesagt, weder über den einen noch über den anderen; dazu ist sie zu stolz. Aber ich weiß, daß alles davon hergekommen ist.«

      »Sicherlich; aber denken Sie nur, wenn sie wirklich Ljewin abgewiesen hat ... Sie hätte das bestimmt nie getan, wenn nicht dieser andere gewesen wäre, das weiß ich. Und nun hat der sie so schändlich getäuscht!«

      Der Fürstin war es gar zu peinlich, daran denken zu müssen, eine wie schwere Schuld sie ihrer Tochter gegenüber auf sich geladen hatte, und sie wurde zornig.

      »Ach, ich verstehe die Welt gar nicht mehr! Heutzutage wollen die Kinder immer nach ihrem eigenen Kopfe leben; der Mutter wird nichts mehr gesagt, und dann, ehe man es sich versieht ...«

      »Maman, ich will zu ihr gehen.«

      »Nun, dann geh doch! Verbiete ich's dir?« erwiderte die Mutter.

      3

      Als Dolly in Kittys hübsches, rosafarbenes, mit Figürchen von vieux saxe geschmücktes Zimmerchen trat, das ebenso hübsch, rosig und heiter aussah, wie es Kitty selbst noch vor zwei Monaten gewesen war, da erinnerte sie sich daran, wie sie beide zusammen im vorigen Jahre dieses Zimmerchen eingerichtet hatten, mit welcher Lust und Liebe! Es war ihr, wie wenn eine eisige Hand nach ihrem Herzen griffe, als sie nun Kitty erblickte, die auf einem niedrigen Stuhle unmittelbar neben der Tür saß und ihre starren Augen auf eine Ecke des Teppichs gerichtet hielt. Kitty sah zu ihrer Schwester auf; aber der kalte, finstere Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht.

      »Ich gehe jetzt und werde lange das Haus nicht verlassen können, und du wirst nicht zu mir kommen dürfen«, sagte Dolly und setzte sich neben sie. »Ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

      »Worüber?« fragte Kitty hastig und hob erschrocken den Kopf in die Höhe.

      »Worüber sonst als über deinen Kummer?«

      »Ich habe keinen Kummer.«

      »Rede nicht so, Kitty! Meinst du wirklich, das könnte mir verborgen bleiben? Ich weiß alles. Aber glaube mir, die Sache ist so geringfügig. Wir haben alle so etwas durchgemacht.«

      Kitty schwieg; ihr Gesicht hatte einen strengen Ausdruck.

      »Er ist nicht wert, daß du dich so um ihn grämst«,

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