Die Erziehung der Gefühle. Gustave Flaubert
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Die Freuden, die er sich versprochen hatte, blieben aus; und als er sich durch ein Lesekabinett durchgearbeitet hatte, die Sammlungen im Louvre durchlaufen und verschiedene Theater besucht hatte, verfiel er völlig dem Müßiggang.
Tausend neue Dinge vermehrten seine Niedergeschlagenheit. Er mußte seine Wäsche zählen und den Hausmeister, einen Grobian mit dem Gebaren eines Krankenwärters, dulden, der nach Alkohol roch und morgens mürrisch sein Bett machte. Sein Zimmer, mit einer Alabasteruhr geschmückt, mißfiel ihm. Die Zwischenwände waren dünn, er hörte die Studenten Punsch bereiten, lachen, singen.
Dieser Einsamkeit müde, suchte er einen seiner Kameraden namens Baptiste Martinon auf, und er entdeckte ihn, über seiner Prozeßordnung büffelnd, vor einem Steinkohlenfeuer, in einer kleinbürgerlichen Pension der Rue Saint-Jacques.
Ihm gegenüber saß ein Mädchen in einem Kattunkleid und stopfte Strümpfe.
Martinon war, was man einen sehr schönen Menschen nennt: groß, voll, mit regelmäßigen Gesichtszügen und bläulichen, schöngeschnittenen Augen. Sein Vater, ein tüchtiger Landwirt, hatte ihn zum Richterstand bestimmt, – und da er schon gesetzt erscheinen wollte, trug er einen Vollbart.
Da Frédérics Verdruß keinen vernünftigen Grund hatte und ein Unglück ihm ausgeschlossen schien, begriff Martinon seine beständige Unzufriedenheit nicht. Er selbst ging täglich zur Universität, machte darauf seinen Spaziergang im Luxembourg, ging abends in ein kleines Café und fühlte sich mit fünfzehnhundert Francs jährlich und der Liebe dieses Mädchens vollkommen glücklich.
»Welch ein Glück!« dachte Frédéric bei sich.
Er hatte auf der Universität eine andere Bekanntschaft gemacht, Monsieur de Cisy, Sohn einer vornehmen Familie und in seinen Manieren anmutig wie ein Mädchen.
Monsieur de Cisy beschäftigte sich mit Zeichnen, namentlich liebte er Gothik. Mehrmals gingen sie zusammen die Heilige Kapelle und Notre-Dame bewundern. Aber die Vornehmheit des jungen Patriziers barg eine höchst dürftige Intelligenz. Alles versetzte ihn in Erstaunen; er lachte laut über den geringsten Scherz und zeigte anfangs eine so vollkommen naive Unschuld, daß Frédéric ihn zuerst für einen Spaßvogel hielt, ihn schließlich aber als Dummkopf betrachtete.
Ein Gedankenaustausch war also mit niemand möglich, und er erwartete immer noch die Einladung der Dambreuse.
Am Neujahrstag sandte er ihnen Visitenkarten, er aber erhielt keine.
Er war nochmals in der Kunsthandlung gewesen.
Er ging ein drittes Mal hin und sah endlich Arnoux, der inmitten von fünf oder sechs Personen disputierte und seinen Gruß kaum erwiderte; das verletzte Frédéric. Doch überlegte er darum nicht weniger, wie er zu ihr gelangen könnte.
Anfangs hatte er die Idee, oft vorzusprechen, um nach Bildern zu fragen. Dann dachte er daran, einige sehr kräftige Artikel in der Zeitung anzubringen, wodurch Beziehungen angeknüpft werden könnten. Vielleicht war es das beste, gerade auf sein Ziel loszugehen und ihr seine Liebe zu erklären. Er verfaßte also einen Brief von zwölf Seiten voll lyrischer Empfindungen und Apostrophen, aber er zerriß ihn, und – in der Furcht vor Mißerfolg tat er nichts und versuchte nichts.
Über dem Laden Arnoux’ befanden sich in der ersten Etage drei Fenster, die jeden Abend erleuchtet waren. Schatten bewegten sich dahinter, besonders einer, das mußte der ihre sein – und er scheute die Mühe nicht, von weit her zu kommen, um diese Fenster zu sehen und diesen Schatten zu betrachten.
Eine Negerin mit einem kleinen Mädchen an der Hand, die in den Tuilerien an ihm vorüberging, erinnerte ihn an die Negerin von Madame Arnoux. Sie mußte wie die andern hierher kommen; jedesmal, wenn er die Tuilerien durchschritt, klopfte sein Herz in der Hoffnung, ihr zu begegnen. An sonnigen Tagen setzte er seinen Spaziergang bis zu den Champs-Elysées fort.
Nachlässig in Kaleschen sitzend, fuhren Damen, deren Schleier im Winde wehten, unter dem festen Tritt ihrer Pferde mit unmerklichem Schwanken, das das lackierte Leder knirschen machte, dicht an ihm vorüber. Die Wagen wurden zahlreicher, und beim Ausgang des Rond-Point langsamer werdend, nahmen sie die ganze Straße ein. Mähne stand dicht an Mähne, Laterne dicht an Laterne; die stählernen Steigbügel, die silbernen Kinnketten, die Kupferschnallen waren hier und dort leuchtende Punkte inmitten der kurzen Hosen, der weißen Handschuhe und dem auf das Wappen der Wagenschläge herabfallenden Pelzwerk. Er fühlte sich wie verloren in einer fernen Welt. Seine Augen irrten über die Frauenköpfe, und vage Ähnlichkeiten brachten ihm Madame Arnoux in Erinnerung. Er stellte sie sich mitten unter den andern vor, in einem dieser kleinen Coupés wie dem von Madame Dambreuse. – Aber die Sonne sank und der kalte Wind wirbelte den Staub empor. Die Kutscher versenkten das Kinn in ihre Krawatten, die Räder fingen an, sich schneller zu drehen, das Pflaster aus zerstoßenem Granit knirschte, und alle Wagen fuhren in schnellem Trabe die lange Avenue hinunter, einander streifend, überholend, ausweichend, um sich dann auf der Place de la Concorde zu zerstreuen. Hinter den Tuilerien nahm der Himmel die Färbung des Schiefers an. Die Bäume des Gartens bildeten zwei enorme, in den Wipfeln veilchenblaue Massen. Die Gaslaternen wurden angezündet und das grünliche Wasser der Seine brach sich an den Brückenpfeilern in Silberwellenlinien.
Er speiste für dreiundvierzig Sous im Abonnement in einem Restaurant in der Rue de la Harpe.
Er betrachtete mit Verachtung das alte Mahagony-Büffet, die fleckigen Tischtücher, das unsaubere Silberzeug und die an der Wand hängenden Hüte. Alle um ihn her waren Studenten wie er. Sie unterhielten sich über ihre Professoren, ihre Geliebten. Was kümmerten ihn die Professoren! Hatte er eine Geliebte? Um ihrer Fröhlichkeit auszuweichen, kam er so spät wie möglich. Speisereste bedeckten alle Tische. Die beiden ermüdeten Kellner schliefen in den Ecken, und der Geruch von Küche, Lampen und Tabak erfüllte den leeren Saal.
Dann ging er langsam wieder die Straße hinauf. Die Laternen schaukelten und ließen auf dem Schmutz lange gelbliche Reflexe zittern. Schatten unter Regenschirmen glitten am Rande des Trottoirs hin. Das Pflaster war schlüpfrig, der Nebel fiel, und ihm war, als senkte die feuchte Dunkelheit sich tief in sein Herz hinab.
Gewissensbisse erfaßten ihn. Er kehrte zu den Vorlesungen zurück. Doch da er nichts von den vorgetragenen Materien wußte, brachten ihn die einfachsten Dinge in Verlegenheit.
Er fing an, einen Roman zu schreiben, mit dem Titel: »Sylvio, der Sohn des Fischers«. Die Geschichte spielte in Venedig. Der Held war er selber, die Heldin Madame Arnoux. Sie hieß Antonia – und um sie zu besitzen, tötete er mehrere Edelleute, brannte einen Teil der Stadt nieder und sang unter ihrem Balkon, wo die roten Damastvorhänge sich wie am Boulevard Montmartre im Winde bewegten. Allein die allzu zahlreichen Reminiszenzen, bei denen er sich ertappte, entmutigten ihn; er gab es auf, und seine Trägheit steigerte sich noch.
Nun bat er Deslauriers, sein Zimmer mit ihm zu teilen. Sie würden sich einrichten, mit seinen zweitausend Francs zu leben; alles sei besser als diese unerträgliche Existenz. Deslauriers konnte Troyes noch nicht verlassen. Er schlug ihm vor, sich zu zerstreuen, Sénécal zu besuchen.
Sénécal war ein Hilfslehrer der Mathematik, ein Mensch von starkem Geist und republikanischen Überzeugungen, ein zukünftiger Saint-Just, wie der Schreiber sagte. Frédéric hatte dreimal seine fünf Stockwerke