Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland – gelbe Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski. Max Weber
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Gegenüber den üblichen unterschiedslosen, kritiklosen und vor allem unmännlichen Verhimmelungen der Bismarckschen Politik schien es nachgerade am Platz, an diese Seite der Sache einmal zu erinnern. Denn ein großer und jedenfalls der einflussreichste Teil der populären Bismarckliteratur ist für den Weihnachtstisch des Spießbürgers zugeschnitten, der jene völlig unpolitische Art der Heldenverehrung bevorzugt, wie sie bei uns üblich geworden ist. Sie redet dieser Sentimentalität nach dem Munde und glaubt, ihrem Helden zu dienen, indem sie seine Schranken verhüllt und seine Gegner verlästert. Aber dadurch erzieht man eine Nation nicht zu eigenem politischem Denken. Bismarcks riesenhafte Größe kann sehr wohl vertragen, dass man auch die Andersdenkenden sachlich versteht und rücksichtslos feststellt: welche Folgen seine tiefe Menschenverachtung und der Umstand hatte, dass die Nation durch seine Herrschaft seit dem Jahre 1878 jener positiven Mitbestimmung ihres politischen Schicksals durch ihre gewählten Vertreter entwöhnt wurde, welche allein die Schulung des politischen Urteils ermöglicht.
Was war infolgedessen – für die uns hier interessierenden Seiten der Sache – Bismarcks politisches Erbe? Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, dass der große Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen werde. Und ferner, als Folge der missbräuchlichen Benutzung des monarchischen Gefühls als Deckschild eigener Machtinteressen im politischen Parteikampf, eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der „monarchischen Regierung“ fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloss, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leer gelassenen Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand nahmen. An diesem Punkt lag der bei weitem schwerste Schaden. Eine politische Tradition dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen, noch auch nur ertragen. Und der Unstern der Nation hatte überdies gewollt, dass er neben seinem rasenden Argwohn auf alle Persönlichkeiten, die ihm irgendwie als denkbare Nachfolger verdächtig waren, auch noch einen Sohn besaß, dessen wahrlich bescheidene staatsmännische Qualitäten er erstaunlich überschätzte. Demgegenüber nun als ein rein negatives Ergebnis seines gewaltigen Prestiges: ein völlig machtloses Parlament. Er selbst hat sich bekanntlich dessen als eines Fehlers angeklagt, als er nicht mehr im Amt war und die Konsequenzen an seinem eigenen Schicksal erfahren hatte. Jene Machtlosigkeit bedeutete aber zugleich: ein Parlament mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau. Zwar die naive moralisierende Legende unserer unpolitischen Literaten denkt sich die ursächliche Beziehung vielmehr gerade umgekehrt: weil das Niveau des Parlamentslebens niedrig gewesen und geblieben sei, deshalb sei es, und zwar verdientermaßen, machtlos geblieben. Höchst einfache Tatsachen und Erwägungen zeigen aber den wirklichen Sachverhalt, der sich übrigens für jeden nüchtern Denkenden von selbst versteht. Denn darauf: ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden, – ob also etwas und wie viel darauf ankommt, was im Parlament geschieht, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein.
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